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Am Ende der Wildnis

Am Ende der Wildnis

Titel: Am Ende der Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Vaillant
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was man nur »Kettensägenforensik« am Baum nennen kann, stellte fest, dass Hadwin wusste, was er tat. Er wendete einen Humboldt-Unterschnitt an und sägte dann eine Reihe von cookies – kleinen Fensterblöcken –, um mit seinem Fünfundsechzig-Zentimeter-Schwert den Kern des Baumes zu erreichen. Er hatte sein Objekt fraglos sorgfältig studiert, denn er setzte die Sägeschnitte und die Fällkeile so ein, dass der Baum nicht ent sprechend seiner natürlichen Neigung fallen würde, sondern mit dem vorherrschenden Wind und in Richtung Fluss. Das Holz der Sitka-Fichte ist so stark, dass zwei zehn Meter lange Stammteile, die nur noch durch ein paar Zentimeter Kernholz miteinander verbunden sind, durch einen Wald geschleift werden können, ohne auseinanderzubrechen, und Hadwin machte sich das zunutze, indem er gerade noch so viel Halteband übrig ließ, dass die goldene Fichte stehen bleiben würde, bis der nächste Sturm aufkam.
    Mit seiner Säge drang Hadwin – wie jeder Holzfäller – tief in die Vergangenheit vor. Baumringe, die verborgen gewesen waren, seit Harry Tingley hier mit seinem Vater ein Picknick genossen hatte, seit die letzte Pockenepidemie die Dörfer in der Umgebung entvölkerte, seit Captain Kendrick von einer Salve Artilleriemunition durchlöchert worden war, seit einer Zeit, bevor Captain Pérez und Häuptling Koyah geboren wurden – sie alle wirbelten vorüber, unbeachtet und in einem flimmernden Kometenschweif aus Sägemehl. Hadwin hörte nicht auf zu sägen, bis er zum Jahr 1710 gelangt war, in dem seine eigenen Ahnen noch eine Art Stammesleben auf den Britischen Inseln führten und die Masten des ersten Nor’westman noch nicht am südlichen Horizont erschienen waren. Dann stellte Hadwin die Säge ab, packte seine Ausrüstung zusammen und zog sie hinter sich über den Yakoun. Zurück blieben nur hörbare Stille und ein Baum, der so instabil war, dass ihn ein Atemhauch hätte zum Erzittern bringen können.
    Am nächsten Tag schenkte Hadwin die Säge einem alten Bekannten in Old Masset und setzte sich ins Flugzeug nach Prince Rupert. Dort bezog er Quartier im Moby Dick Inn, einem Hochhausmotel, nur drei Blocks vom Wasser entfernt, und schickte sein letztes Massenfax ab, das auch bei Greenpeace, der Daily News in Prince Rupert, der Vancouver Sun , Mitgliedern der Haida Nation und sogar Cora Gray empfangen wurde. Aber es stand außer Zweifel, dass die Nachricht für einen anderen Empfänger bestimmt war: MacMillan Bloedel. Sie lautete u. a.:
    Betreff: Das Fällen Ihrer »Lieblingspflanze« . Dear Sir or Madam: … Ich hatte keine Freude daran diese großartige alte Pflanze Niederzumetzeln, aber Sie brauchen offenbar diese Botschaft und einen Weckruf, den sogar an der universität ausgebildete Fachleute verstehen dürften.
    … Ich wollte den meisten Mitgliedern des Haida-Volkes ebenso wenig wie der natur und Umwelt auf Haida Gwaii gegenüber nicht respektlos sein. Ich will mit dieser meiner Handlung jedoch meine Wut und meinen Hass ausdrücken, gegenüber an der universität ausgebildeten Fachleuten und ihren extremistischen Un terstützern, deren Ideen, Moral, deren Leugnen und Halbwahrheiten und Einstellungen usw. allem Anschein nach für die meisten Abscheulichkeiten verantwortlich sind, die dem Laienleben auf diesem Planeten angetan werden.
    Einen Tag später stürzte die goldene Fichte.
    Unter den Einheimischen, besonders innerhalb der Haida-Gemeinde, war die Reaktion dramatisch. »Wie nach einem Drive-by Shooting in einer Kleinstadt«, erklärte John Broadhead, ein langjähriger Inselbewohner. »Die Menschen weinten; sie standen unter Schock, sie litten unter schlimmen Schuldgefühlen, weil sie den Baum nicht besser beschützt hatten.« Broadhead hielt einen Moment inne, um zu versuchen, mit den richtigen Worten das auszudrücken, was niemand verstehen konnte, der kein Haida war. »Es war wie ein Drive-by Shooting auf den Kleinen Prinzen«, sagte er schließlich. Nach der Haida-Legende repräsentierte die goldene Fichte einen guten, aber rebellischen Jungen, der verwandelt worden war, und deswegen hielten manche Haida das Verbrechen nicht für mutwillige Zerstörung oder eine Protestaktion, sondern für eine Art Mord. »In gewisser Weise war es schmerzlich wie der 11. September in New York«, erläuterte die Haida-Älteste Dane Brown. »Ein Teil unserer Gemeinde wurde ausradiert.«
    Sobald er die Nachricht erhalten hatte, gab der Rat der Haida Nation die folgende Presseerklärung

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