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Am Ende der Wildnis

Am Ende der Wildnis

Titel: Am Ende der Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Vaillant
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Rechtfertigung, die man immer wieder hört. Aber für die meisten Einwohner von Port Clements hatte das, was Hadwin tat, wenig mit der Nutzung von Ressourcen oder Protest gegen den sträflichen Umgang mit der Umwelt zu tun. Wie die Haida sahen sie in seiner Handlung die mutwillige Zerstörung eines hochgeehrten Symbols und daher beinahe ein Sakrileg. Glen Beachy, der Bürgermeister von Port Clements, sprach vielen Haida aus der Seele, als er einem Reporter sagte, dass »es mich krank macht. Es ist, als würde man einen alten Freund verlieren.« Aber er hatte auch andere Dinge im Sinn: »Warum sollte ein Reisebus jetzt noch hier vorbeikommen?«
    Dann rief Bürgermeister Beachy eine »Random Acts of Kindness«-Woche (Woche der spontanen Hilfsbereitschaft) in Port Clements ins Leben.
    In einem Artikel verglich der leitende Redakteur der Daily News von Prince Rupert Hadwins Logik mit der eines Abtreibungsgegners, der einen Arzt tötet, weil er Abtreibungen vornimmt. Ende Januar waren die Gemüter so erregt, dass die RCMP unter dem Druck, den Fall so schnell wie möglich beizulegen, Hadwins Gerichtstermin um mehr als zwei Monate nach vorn verschob. Er sollte jetzt am 18. Februar, schon in drei Wochen, in Masset erscheinen. »Die machen das so hinterlistig, wie sie nur können«, sagte Hadwin damals einem Reporter. »Sie wollen mich dort haben, damit die Ureinwohner zum Zug kommen. Wäre wahrscheinlich der reine Selbstmord, schon so bald da aufzutauchen.«
    Und so mag es auch gewesen sein.

KAPITEL NEUN
    Mythos
    I will tell you something about stories [he said]. They aren’t just entertainment. Don’t be fooled. They are all we have, you see, all we have to fight off illness and death.
    Leslie Marmon Silko, Ceremony
    Ich will dir zu den Geschichten was sagen (sprach er).
    Sie dienen nicht nur zur Kurzweil. Täusche dich nicht. Sieh, sie sind alles, was wir besitzen, alles, was wir haben, um Krankheit und Tod abzuwehren.
    Leslie Marmon Silko, Gestohlenes Land wird ihre Herzen fressen
    A ls die goldene Fichte fiel, begrub sie alle Bäume untersich, die ihr im Weg standen. Aus der Ferne sah es aus, als müsse ein Blitzschlag für die Zerstörung gesorgt haben oder eine ungeheure Sturmbö, und in gewisser Weise war es auch so. Denn wie standen die Chancen, dass dergleichen geschah? Die goldene Fichte war einzigartig unter einer Milliarde, und dasselbe galt für Grant Hadwin. »Wer auch immer das hier getan hat«, sagte ein Sprecher von MacMillan Bloedel, kurz nachdem der Baum gefunden worden war, »der muss auf Teufel komm raus entschlossen gewesen sein.« Er bezog sich dabei nicht nur auf logistische Aspekte, sondern auch auf den strapaziösen Kraftaufwand, den Baum überhaupt zu erreichen und ihn dann mitten in der Nacht zu fällen. Man kann sich kaum vorstellen, dass jemand anders über das nötige Maß an Besessenheit, Ausdauer und Fertigkeiten verfügte, eine solche Tat zu vollbringen.
    Die goldene Fichte fiel so, dass die letzten sechs Meter über den Fluss hinaushingen – ein beklagenswerter Anblick: die golden leuchtenden Äste, die wie Rockschöße gerafft waren und das dunkle Grün darunter entblößten; die Schnittfläche des Stumpfs so gleißend weiß im düsteren Wald; die Beschädigung so gering im Verhältnis zur Größe des Baumes und doch niemals je zu beheben. Am Sonntag, dem 26. Januar, drei Tage nachdem die gefallene goldene Fichte von der Ehefrau eines Angestellten bei MacMillan Bloedel entdeckt worden war, wurde der Baum zum Thema einer Predigt, oder eher noch einer Grabrede, in der anglikanischen Kirche von Masset. »Das war nicht einfach nur ein Baum von ungewöhnlicher Schönheit«, verkündete Reverend Peter Hamel, »dieser Baum war ein einzigartiges Symbol für die Inseln und uns selbst. Es war ein mystischer Baum, der unseren Seelen Halt schenkte, wann immer wir ihn vor Augen hatten … Die Existenz dieses Baumes … schweißte uns zusammen und erhob uns aus dem Profanen hinauf in das erhaben Göttliche.« Hamel suchte sich Hilfe bei William Wordsworth, dem großen Dichter der englischen Romantik, um auszudrücken, was er selbst nicht formulieren konnte:
    Oft have I stood
    Foot-bound uplooking at this lovely tree
    Beneath a frosty moon. The hemisphere

    Of magic fiction, verse of mine perhaps

    May never tread; but scarcely Spenser’s self
    Could have more tranquil visions in his youth,
    More bright appearances could scarcely see
    Of human forms and superhuman powers,
    Than I beheld standing

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