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Am Ende der Wildnis

Am Ende der Wildnis

Titel: Am Ende der Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Vaillant
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erwartet. Zum Beispiel ist Haida Gwaii nach einer Haida-Legende der Ursprung der Welt, und die ersten Menschen waren an einem Ort namens Naikoon (Rose Spit), der langen und spitz auslaufenden Sandbank an der nordöstlichen Ecke von Graham Island, einer Muschel entstiegen. Wenn wir »Wahrheit« oder »Tatsache« verstehen wollen, hängt sehr viel vom Kontext und von der Orientierung ab: Für den Laien klingt die Urknalltheorie so bizarr und abstrus wie die Haida- Geschichte vom »Geist der Luft, der selbst dafür sorgte, dass er geboren wurde«. Und doch klingt Ersteres wie eine Kurzfassung von Letzterem.
    Da die Haida weder ein Alphabet kannten noch schreiben konnten, wurde alles an Information mündlich weitergegeben, und das war eine enorme Menge. Manche Haida-Legenden, wie zum Beispiel der Schöpfungsmythos »Rabe, der immer weiter ging«, sind vierzig oder mehr Seiten lang, aber selbst in dieser Länge stellen sie wohl nur eine gekürzte Version der Originalfassung dar. Das überrascht nicht, wenn man die unermesslichen Verluste bedenkt, die die Haida und ihre Nachbarn auf dem Festland erlitten. Eine Karte der Queen Charlotte Islands, die 1927 von British Columbias Department of Lands veröffentlicht wurde und Aufschluss über die Ressourcen gab, setzt die Holzbestände der Inseln auf über fünfzehn Milliarden board feet an. Zudem verweist sie darauf, dass so gut wie sämtliches Wald land erster Qualität im Yakoun-Tal, einschließlich des in der Umgebung der goldenen Fichte, bereits alienated (ein britischer Ausdruck für verpachtet) war. Besonders bestürzend ist jedoch das Ergebnis der Volkszählung auf den Inseln, die von nur sechshundertfünfundvierzig Haida-Bewohnern ausgeht. Diese verblüffende Zahl stellt eine Bevölkerungs abnahme von ungefähr fünfundneunzig Prozent gegenüber geschätzten Zahlen aus der Vorkontaktzeit dar (basierend auf Dorfgrößen, Muschelhaufen und anderen verwandten Daten). Genozid, wie passiv er auch begangen sein mochte, ist kein zu starkes Wort, um diesen katastrophalen Bevölkerungsrückgang zu beschreiben. Wie man es auch immer benennen will, fest steht, dass die Haida beinahe das Schicksal der Seeotter geteilt hätten.
    Nachdem eine Abfolge von Epidemien die Haida-Bevölkerung auf eine Rumpfmannschaft reduziert hatte, befanden sich die Überlebenden in einem Schockzustand, ähnlich wie ihn auch die Überlebenden der Bombardierung von Hiroshima oder der Massaker in Ruanda erduldet haben müssen. Todkranke und verwesende Leichname lagen überall – zu zahlreich, um sie fortzutragen oder zu begraben. Die gesamte Kultur der Haida lag gewissermaßen in Scherben, und alle grundlegenden Aktivitäten waren zum Stillstand gekommen. Es blieben nicht genügend Menschen übrig, die großen Kanus wirkungsvoll zu paddeln, zu fischen, Legenden weiterzutragen oder die Waisenkinder aufzuziehen. Viele Fertigkeiten und sehr viel Wissen waren mit denen gestorben, die darüber verfügt hatten. Es muss gewesen sein, als ginge man zur Arbeit, zur Schule oder in eine Bar um die Ecke und müsste feststellen, dass neunzehn von zwanzig Menschen tot waren oder starben, ohne dass Hilfe nahte. Was sollte man machen? Wohin gehen? Um die Jahrhundertwende waren schließlich Überlebende aus ungefähr fünfzig Dörfern – von denen manche in erbitterter Feindschaft zerstritten gewesen waren – zusammengeführt worden, anfangs in fünf Gemeinden und dann in zwei: Skidegate Mission am südlichen Ende von Graham Island und Old Masset am Nordende. Noch jetzt existieren drastische Unterschiede zwischen den Gruppen, aber auch innerhalb. »Über Skidegate und Masset zu sprechen ist wie über China und Japan zu reden«, erklärte ein Ältester, der in Masset aufgewachsen war. »Obwohl die Welt uns zusammengebracht hat, kennen wir doch den Unterschied.« Bis heute weiß jeder, wer vom Adel abstammt und wessen Vorfahren Sklaven waren.
    Die Vernichtung der Kultur schritt fort, als die Überlebenden von Missionaren empfangen wurden, die zwar halfen, ihren neuen Schutzbefohlenen Unterkunft zu schaffen, sie zu ernähren und sie zu kleiden, aber das natürlich im Namen des Christentums taten. Viele Haida nahmen diesen neuen Glauben an, und das mag zu jener Zeit auch durchaus erklärlich gewesen sein, denn den Menschen war so gut wie alles zerstört worden, was sie zuvor gewusst und geglaubt hatten. »Die Inselbevölkerung ist jetzt auf unter siebenhundert geschrumpft«, schrieb im Jahr 1901 der Ethnograf und Linguist

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