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Am Ende der Wildnis

Am Ende der Wildnis

Titel: Am Ende der Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Vaillant
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ein, dass »ihm vielleicht etwas zustoßen könnte«.
    Masset ist in zwei verschiedene Gemeinden aufgeteilt: New Masset (neunhundertfünfzig Einwohner ) , das vorrangig angelsächsische Dorf, zu dem sowohl das wichtigste Einkaufsviertel als auch der Bundeshafen und das Gerichtsgebäude gehören; und Old Masset, das abgesehen von Ehepartnern, die keine Haida sind, fast ausschließlich von Ureinwohnern bevölkert ist. Über seine augenfälligen Verbrechen hinaus hatte Hadwin die Balance in dieser segregierten Gemeinde empfindlich gestört. »In einer Kleinstadt herrscht ein Lebensrhythmus«, bemerkte Constable Walkinshaw. »Old Masset, New Masset – alle kommen ganz gut miteinander aus. Selbst Fran, die Gerichtsstenografin, geht zu den Potlatches. Außenstehende – Leute wie Hadwin – bringen den Rhythmus ins Stolpern. Irgendjemand wird ihn sich schnappen.«
    »Fast jeder in dieser Gemeinde war bereit, den Mann aufzuknüpfen, weil er uns so großen Schmerz zugefügt hat«, erinnerte sich Robin Brown vom Clan der Tsiij git’anee. »Es war, als sei einer von uns gestorben.« Ron Tranter, ein Anglobewohner von Old Masset, dem Hadwin seine Säge gegeben hatte, wurde kurzzeitig verdächtigt, das Verbrechen begangen zu haben, und reagierte erbost. »Wenn ich ihn sehe«, gelobte Tranter, »bring ich ihn um.« Aber allem Anschein nach bestand bereits eine Warteliste für diese Ehre. »Alle sind einer Meinung«, behauptete Eunice Sandberg, eine Barfrau im Yakoun Inn von Port Clements. »Dieser Typ muss aus dem Weg geschafft werden.« Der einheimische Holzfäller Morris Campbell schlug vor, man solle »seine Eier auf den Stumpf nageln«. Ein Haida-Anführer schlug vor, man solle Hadwin an den Baum nageln. Andere fragten sich, »ob wir nicht einen Teil von der Person, die das getan hat, amputieren sollten, um zu sehen, wie ihr das gefällt«. Alles natürlich leichter gesagt als getan, doch gibt es für solche Bestrafungen tatsächlich eine Art Präzedenz fall. In Der goldene Zweig , seiner klassischen Studie über Magie und Religion, schreibt Sir James Frazer:
    Wie ernsthaft man es in früherer Zeit mit dieser Verehrung nahm, kann man aus der barbarischen Strafe schließen, welche die alten deutschen Gesetze denen auferlegten, die es wagten, die Rinde von einem lebenden Baume abzuschälen. Der Nabel des Verbrechers mußte herausgeschnitten und an den Teil des Baumes genagelt werden, den er abgeschält hatte, und er mußte immer wieder um den Baum herumgejagt werden, bis seine Eingeweide sich um den Baum geschlungen hatten. Der Zweck der Strafe war augenscheinlich der, die tote Rinde durch etwas Lebendes von dem Körper des Verbrechers zu ersetzen. Man forderte ein Leben für ein anderes, das Leben eines Menschen für das Leben eines Baumes.
    Während die Ureinwohner der Inseln sich immer in Richtung Küste und Meer orientiert haben, waren die europäischen Siedler ebenso Inländer – Waldbewohner – wie Fischer. Noch heute geht die Beziehung, die viele Holzfäller zum Wald haben, über das Absägen von Bäumen hinaus. In dieser Hinsicht hat sich seit langer, langer Zeit kaum etwas geändert. Menschen, die mit diesem Leben nichts zu tun haben, fällt es schwer, die Wertschätzung nachzuempfinden, die ein Holzfäller für seine natürliche Umwelt hegt. Aber Jack Miller, der sechzig Jahre in der Holzindustrie und an ihrer Peripherie verbracht hat, versuchte es mit der folgenden Geschichte aufzuzeigen.
    Miller und sein Supervisor waren zur Holzbeschau auf Nootka Island vor der Westküste von Vancouver Island, damals in den 1950er-Jahren, als der Vorgesetzte eine seltene Orchidee fand und auf sie aufmerksam machte. Bald darauf entdeckte auch Miller in ziemlicher Entfernung ein Exemplar und sagte: »Hier, ich pflücke sie Ihnen.«
    Aber sein Supervisor trug ihm auf, die Blume zu lassen, wo sie wuchs. »Wieso?«, fragte Miller. »Hier wird doch sowieso alles gefällt.« »Lass sie«, befahl der Supervisor. Die individuelle Liebe zum Wald existiert neben einer kollektiven industriellen »Rein und Raus«-Mentalität, die im Laufe der Zeit dem Raubbau zum Opfer gefallene Täler und verseuchte Flüsse hinterlassen hat, die von Maschinenteilen, Benzinfässern, alten Reifen und Tausenden Metern rostender Kabel verunreinigt sind. Die meisten Menschen, die für ihren Lebensunterhalt arbeiten, sehen das, was sie tun, als notwendig an. »Es handelt sich um eine natürliche Ressource, die genutzt werden sollte«, ist die rationale

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