Am Ende der Wildnis
Jahrhundert vor Christus, »widmet einfaches Landvolk Bäume von außergewöhnlicher Höhe seinen Göttern …«
Am folgenden Samstag, dem 1. Februar, wurde »zur Trau er um einen unserer Ahnen« eine öffentliche Gedenkfeier gegenüber dem gefällten Baum am Flussufer abgehalten. Es regnete und fing fast schon zu schneien an, als die Menschenmenge eintraf, um die Wunde im Wald zu schließen, und Dii’juung, der Erbhäuptling der Tsiij git’anee, trug eine Chilkat-Decke, die aus Bergziegenhaar gewebt war, und schlug auf einer schwarzen Trommel die Kadenzen eines langsamen Trauermarsches. Neil Carey, ein Veteran der U. S. Navy und Autor, der seit fünfzig Jahren auf Haida Gwaii lebte, beschrieb die Zeremonie als »eine der größten Ansammlungen von Inselbewohnern, die ich je erlebt habe. Es war wie ein Begräbnis, und beiderseits der Straße parkten die Autos bestimmt eine Meile weit.«
Es war Ernie »Big Eagle« Collison, auch bekannt als Skilay der Steuermann, der einen großen Teil der Feier organisiert hatte und sie auch leitete. Ihm zur Seite standen zahlreiche Haida-Häuptlinge und weitere Anführer, darunter Guujaaw, dessen Name »Trommel« bedeutet. Während der Zeremonie schwoll der Klang der Trommeln in der Stille des dämmrigen Waldes zu einem ohrenbetäubenden Crescendo an, die Schläge, die von den Baumstämmen widerhallten, schienen dreidimensional zu donnern. Haida-Lieder der Trauer und der Erneuerung intonierend, hallten die Stimmen der Sänger – besonders die Guujaaws – durch den Wald. Es waren Gesänge, die man an den Ufern des Yakoun seit einer Ewigkeit nicht mehr gehört hatte, nicht seit die große Krankheit und dann das Brüllen der Kettensägen sie erstickt hatten.
Die Botschaft der Häuptlinge, der Geistlichen und der Gemeindevorstände kündete nicht nur von Trauer, Vergebung und Einigkeit, sie war auch von Ratlosigkeit getragen: »Es ist nur schwer vorstellbar, was in manchen Menschen vorgeht«, sagte Häuptling Skidegate, der auf einer Bühne stand, die man eigens zu diesem Anlass im Wald errichtet hatte, und die Menge durch ein Mikrofon ansprach, »und wie jemand etwas so Tragisches anzurichten vermochte.« Als Skilay die Bühne betrat, wirkte er müde und seiner Kräfte beraubt. Normalerweise war er ein vitaler Mann und nie darum verlegen, seinen Kommentar abzugeben, aber jetzt schienen ihm die Worte zu fehlen. Es war, als habe der Tod des Baumes einen Teil seiner Lebenskraft aufgezehrt. Er beschrieb das Ritual als eine Gedenkfeier, bei der es darum ginge, »die Gefühle in euren Herzen und in euren Seelen und in euren Köpfen, in euren Ängsten und in eurem Zorn anzusprechen – zum Verlust dieses wunderschönen Baumes, der uns allen auf Haida Gwaii – auf den gesamten Charlotte Islands, wenn man so will – und überall auf der Welt so viel bedeutet … Menschen aus ganz Nordamerika haben angerufen«, sagte er, »weil sie versuchen möchten, den Wahnsinn zu verstehen, dem wir diese kummervolle Lage zu verdanken haben.«
Als ein Journalist Skilay fragte, ob er tatsächlich glaube, dass sich ein kleiner Junge in einen Baum verwandeln könne, erwiderte er: »Glauben Sie, dass eine Frau zur Salzsäule erstarren kann?«
Der erzählerische Kanon der Haida hat viel mit der Bibel gemeinsam, denn beide enthalten Geschichten, die ver schiedenste Funktionen erfüllen: Manche sind Schöpfungs mythen, manche verfolgen die Abstammungslinien von Familien oder ganzen Stämmen, manche betreffen die Geschichte der Region und wichtige lokale Ereignisse, andere sind Prophezeiungen und wieder andere werden weitergegeben, um die Jungen zu belehren und die Alten zu mahnen. Die Geschichte von der goldenen Fichte fällt, so wie sie bis heute überlebt hat, in letztere Kategorie: Sie ist eine Parabel. Alle diese Geschichten geben, wenn sie angemessen erzählt werden, wichtige Informationen weiter und besitzen Unterhaltungswert, aber davon geht viel in der zweifachen Übersetzung verloren – von der Sprache der Haida ins Englische und vom gesprochenen Wort auf die gedruckte Buchseite. Wie ein Theaterstück oder ein Song waren Geschichten dieser Art als Live-Darbietung gedacht, die ihre Ausdrucksstärke aus dem Charisma des Erzählers und seiner oder ihrer Wirkung auf das Publikum schöpft. Wie bei Geschichten aus der Bibel stellen auch wörtliche Ausdeutungen von Haida-Legenden diejenigen Menschen vor Probleme, denen es um »rationale« Sinndeutung geht, wie man sie nach dem Zeitalter der Aufklärung
Weitere Kostenlose Bücher