Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Ende der Wildnis

Am Ende der Wildnis

Titel: Am Ende der Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Vaillant
Vom Netzwerk:
angemessen beerdigt, Artefakte werden ebenfalls zurückgeholt. Die verstreuten Bruchstücke dessen, was um Haaresbreite zu einem verlorenen Stamm geworden wäre, kehren langsam heim.
    Im Jahr 1969 wurde Massets erster Pfahl nach der Zeit der Missionare von Robert Davidson geschnitzt, der zu den Anführern der Haida-Renaissance gehörte. Davidsons Groß mutter wollte beim Aufstellen des Pfahls tanzen, aber seit Generationen hatte es so etwas auf Haida Gwaii nicht mehr gegeben. Da weder Masken noch Kostüme zur Verfügung standen, wie sie einst zu dieser Tanzzeremonie gehörten, stülpte sie sich eine Papiertüte über den Kopf. Es war wie eine Szene aus Fahrenheit 451 , als diese betagte Frau – eines der letzten Bindeglieder zu einer Kultur, die in Tausenden Jahren gewachsen war – über den Boden schlurfte und die anderen führte, während ihre Füße allmählich die vergessenen Schrittfolgen wiederentdeckten und sich die Wörter zuerst in ihrem Gedächtnis und dann auf ihren Lippen sammelten, um nach langer furchtbarer Stille wieder einmal laut zu ertönen. Es war diese Generation – diejenige, welche die Überlebenden der Pockenepidemie noch per sönlich gekannt hatte –, die dafür sorgte, dass die Geschichte von der goldenen Fichte zusammen mit so vielen anderen bis zum heutigen Tag überdauert hat.
    An der Nordwestküste werden Geschichten als Besitz be trachtet, so wie Land oder Autos in der euroamerikanischen Kultur oder Gitarrenstimmungen bei manchen hawaiiani schen Familien. Manche Geschichten gelten als Gemeingut, wohingegen andere einem bestimmten Clan oder einer Familie gehören, deren Mitglieder die einzigen sind, die eine solche Geschichte erzählen dürfen; dasselbe gilt für bestimmte Tänze, Lieder und Wappen. Wenn jemand etwa eine Haida in Skidegate bat, die Geschichte von der goldenen Fichte zu erzählen, würde sie antworten: »Die Geschichte gehört nicht uns«, und dann würde sie diesen jemand nach Masset schicken, mehrere Tage im Kanu – inzwischen nur noch eine Stunde Autofahrt – nach Norden. Wenn man jedoch einen Masset Haida bitten würde, die Geschichte zu erzählen, täte er es vielleicht, wenn er sie kannte, aber wahrscheinlich würde er auf einen Ältesten aus dem Tsiij-git’anee-Clan verweisen.
    Die Geschichte von K’iid K’iyaas – der goldenen Fichte – ist erst 1988 zu Papier gebracht worden, weniger als zehn Jahre bevor der Baum gefällt wurde. Die Erzähler der Geschichte, die sie in der Sprache der Haida gelernt hatten, verloren bei dem Versuch, sie an den Teenager Caroline Abrahams weiterzugeben, manchmal den Mut. Die junge Frau wollte sie aufzeichnen, um sie in einem Buch zur Geschichte des Yakoun River zu berücksichtigen. Abrahams, die jetzt in West Virginia lebt, kann wie viele ihresgleichen die Sprache der Haida weder sprechen noch verstehen (es sind keine dreißig Menschen übrig, die diese Sprache fließend sprechen, und die Jüngste von ihnen, Diane Brown, ist in den Fünfzigern. Alle anderen sind zwanzig Jahre oder noch älter). Die Ältesten – darunter auch Abrahams Großmutter – hielten bei der Erzählung dieser Geschichte häufig mitten im Satz inne, um zu beklagen: »Dafür gibt es kein englisches Wort.« Die Übernahme der Sprache der Eroberer ist immer eher eine Notwendigkeit als ein Gunstbeweis, und entsprechend erweist sich das Sprachvermögen als kümmerlich. Die englische Version der Legende von der goldenen Fichte zu lesen, die ein Haida-Muttersprachler abgefasst hat, lässt sich mit der Lektüre der Canterbury Tales in rudimentärem Haida vergleichen. Niemand kann wirklich abschätzen, wie viel an Nuancen, Bedeutungsbrei te und Sprachkunst bei der Übersetzung verlorengehen. Sicherlich eine beträchtliche Menge. Wie alle guten Geschichten hat die von K’iid K’iyaas einige universelle Qualitäten: Sie vereint Elemente der Geschichte von Sodom und Gomorra und der Arche Noah mit den griechischen Mythen von Artemis und von Orpheus und Eurydike. Aber diese Version beginnt damit, dass ein Junge auf den Strand scheißt.
    Eines Winters vor vielen Jahren ging ein junger Mann hinunter an den Strand, um sich zu erleichtern. Es war zu kalt, um sich hinzuhocken, und deswegen blieb er stehen. Als er fertig war, blickte er nach unten, und da war seine Wurst. Sie stand aufrecht wie ein Baum im Schnee. Der junge Mann fand das lustig und lachte und lachte. Und da fing es zu schneien an, und es hörte nicht wieder auf. Alle Wintervorräte waren

Weitere Kostenlose Bücher