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Am Ende der Wildnis

Am Ende der Wildnis

Titel: Am Ende der Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Vaillant
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simple Botschaft: Respektiere deine Ältesten, oder es wird dir leidtun. Abgesehen von dieser augenfälligen Bedeutung lässt sich die Parabel aber auch als eine Lektion lesen, wie man den Verlust eines ganzen Dorfes überlebt, das einem Massaker oder einer Pockenepidemie zum Opfer fiel, oder auch den Zwangsaufenthalt in einem Internat: Sieh nicht zurück, versuche nicht, an jenen öden Ort zurückzukehren. Aber jeder, der imstande wäre, diese oder sonst eine Theorie von sich zu weisen oder zu bestätigen, ist tot. Selbst die Großmutter, die diese Geschichte als Mädchen gehört und sie dann an ihre Enkelin weitergegeben hatte, lebt nicht mehr. Wie der Baum und der Mann, der ihn fällte, ist die Geschichte ein Rätsel, oder genauer gesagt, Teil eines Rätsels, das sich niemals vollständig lösen lassen wird.

    ******** Impliziert ist hier eine wissenschaftliche Definition von »lebend« im Gegensatz zu derjenigen, die traditionell von den meisten indigenen Völkern benutzt wurde und davon ausging, dass alles lebendig und miteinander verbunden ist. Zunehmend wird diese Sichtweise von der Wissenschaft übernommen.

KAPITEL ZEHN
    Hecate Strait
    »Was hat er gesagt? … Ahab hüte sich vor Ahab … da ist was dran!«
    Herman Melville, Moby-Dick
    N ach einem kurzen Aufenthalt in Hazelton kehrte Hadwin nach Prince Rupert zurück, um sich für seinen Ausflug vor Gericht bereitzumachen. Obwohl Cora Gray schockiert davon war, was er getan hatte, hielt sie doch zu ihm. »Er hat unrecht getan«, sagte sie damals zu einem Journalisten. »Und ihn quält ein schlechtes Gewissen deswegen. Er hat nur noch MacMillan Bloedel im Kopf gehabt. Und es ist ihm keine Haida-Legende in den Sinn gekommen, als er es tat.« Gray versuchte sogar, Hadwin für seinen bevorstehenden Aufenthalt auf Haida Gwaii ein Zimmer zu mieten. Doch alle, mit denen sie sprach, gaben vor, kein freies Zimmer zu haben, obwohl das eigentlich nicht einmal im Hochsommer vorkam. Da Gray im düstersten Februar telefonierte, ist eher anzunehmen, dass niemand Hadwin unter seinem Dach beherbergen wollte. Inzwischen blieben Hadwin nur zwei Möglichkeiten: Er konnte in den Ring steigen, oder er konnte Reißaus nehmen. Die meisten Menschen hätten seine Situation für einen reinen Albtraum gehalten, aber Hadwin mag durchaus den Eindruck gehabt haben, dass sich ihm eine perfekte Gelegenheit bot. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er die Aufmerksamkeit furchtbar vieler Leute auf sich gelenkt, und angesichts seiner Überzeugungen und seiner belegten Bereitwilligkeit, offiziell Stellung zu nehmen, ist durchaus zu unterstellen, dass er den Gerichtssaal als höchst geeignetes Forum sah, seine Beschwerden über die Missstände an die Öffentlichkeit zu bringen. Er musste nur unversehrt dorthin gelangen. Hadwins Lösung für dieses Problem hatte ebenso wie seine Lösung für die holzwirtschaftlichen Praktiken von MacMillan Bloedel zuerst einen komplexen – und für die meisten Menschen unbegreiflichen – Klärungsprozess zu durchlaufen, in dem Stolz, persönliche Integrität, Paranoia und absolute Selbstgewissheit eine Rolle spielten. In dieser Hinsicht unterschied er sich nicht sehr von Menschen wie Johanna von Orleans oder Ted Kaczinski, und er besaß auch ein gewisses Charisma, wenngleich er genau wie der Unabomber nicht über die Fähigkeit verfügte, seine Mitmenschen zu überzeugen und zu inspirieren. Dennoch unterschied sich Hadwin in zweierlei Hinsicht entscheidend von diesen anderen engagierten, radikalisierten und egozentrischen Menschen: Erstens tötete er nicht und war auch kein Fürsprecher des Tötens, und zweitens konnte er auf unwiderlegbare Kenntnisse und Erfahrungen verweisen, was das Überleben in der Wildnis betraf. Es war diese unerschütterliche Selbstsicherheit gegenüber den Elementen, die es Hadwin ermöglichte, etwas zu versuchen, was zuvor noch nie jemand unternommen hatte: eine Über querung der Hecate Strait mitten im Winter in einem Kajak. Es gibt einleuchtende Gründe dafür, dass es noch nie versucht worden war, und Pat Campbell, die im Moby Dick Inn hinterm Tresen stand, fasste sie überzeugend zusammen. »Das Wasser in Rupert brodelt, als ob es kocht«, erklärte sie, »und das schon am Dock. Ich bin sicher, [Hadwin] hat das gewusst. Er muss das Wetter erkannt haben – und er wusste, was es anrichten konnte. Es ist gemeingefährlich, das Wasser, einfach brutal.«
    Eine ganze Reihe von Orten erhebt Anspruch auf den Titel »Friedhof des

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