Am Ende der Wildnis
John Swanton an seinen Mentor, den berühmten Anthropologen Franz Boas. »Die Missionare haben sämtliche Tänze verboten und waren maßgeblich daran beteiligt, alle alten Häuser zerstören zu lassen – letztlich alles, was das Leben lebenswert macht.«
Im Verlauf der massenhaften Bevölkerungsverluste und der darauf folgenden Umsiedlung gingen fast alle Masken, Kostüme und Ritualgegenstände verloren, die einst das materielle Rückgrat des spirituellen Lebens der Haida gebildet hatten. Manche wurden einfach zurückgelassen oder verkauft, weil ihre Besitzer den Bezug zu ihrem Zweck verloren hatten oder dringend Geld brauchten, um die nötigsten Grundbedürfnisse befriedigen zu können. Andere wiederum wurden von Missionaren gestapelt und verbrannt oder von indianischen Vermittlern in Beschlag genommen, die Artefakte dieser Art an Sammler verkauften. Selbst Anthropologen trugen alles zusammen, dessen sie habhaft werden konnten. Im Jahr 1910 waren dann die meisten Pfähle, die an der Nordwestküste gestanden hatten, eben falls verschwunden: gefällt, weil Missionare und Regierungs beamte es erzwangen oder Sammler sie sich aneigneten. Manche wurden gefällt, weil man Feuerholz brauchte, und in zumindest einem Fall wurden sie als Pfeiler benutzt, die einen Holzsteg am Ufer stützten. Viele der besten Pfähle wurden in Museen gebracht, und diese Rettungsaktionen erwiesen sich in den meisten Fällen als Segen. Aber nicht alle Haida nahmen die Situation stillschweigend hin. An der Südspitze von Prince of Wales Island (Alaska) befanden sich mehrere Dörfer, die von Exilanten bewohnt waren, die man Kaigani Haida nannte. Dort integrierte Häuptling Skowall die Botschaft örtlich tätiger russisch-orthodoxer Missionare, indem er einen von ihnen zusammen mit einem russischen Heiligen und dem Erzengel Michael in einem riesigen neuen Totempfahl verewigen ließ.
Es muss erwähnt werden, dass Missionare wie alle anderen Beteiligten an der Küste sehr unterschiedlich agierten. An manche erinnert man sich mit Zuneigung und Bewunderung für ihre Großherzigkeit und ihre Anleitungen, während man anderen die vielen Misshandlungen und Repressalien sehr übel nimmt. Nach der Ankunft der Missionare und Regierungsbeamten Ende des 19. Jahrhunderts überlebten einige indigene Traditionen, indem sie einfach in den »Untergrund« gingen. Daher stehen die meisten Haida mit jeweils einem Fuß in beiden Welten; gewissermaßen stellt die Nordwestküste inzwischen ein vielfältiges Pantheon dar, dessen Repräsentanten aus den verschiedensten Orten stammen – von den Wüsten des Nahen Ostens bis zum Grund des Pazifischen Ozeans.
In den Jahrzehnten, die auf die schlimmste Epidemie 1862 folgten, verließen viele Haida die Inseln, um irgendwo Arbeit zu suchen oder auch nur einen Ort zu finden, der vom Schicksal nicht so geschlagen war. Manche gelangten nach Victoria, der Hauptstadt von British Columbia, die am Südzipfel von Vancouver Island liegt. Die Haida mussten dazu achthundert Kilometer im Kanu zurücklegen, und unterwegs wurden sie oft von Stämmen drangsaliert, deren Angehörige sie Jahre oder Jahrzehnte zu vor versklavt oder ermordet hatten. Nach ihrer Ankunft in Victoria erging es ihnen kaum besser, und viele von ihnen scheiterten. Bevor es im späten 19. Jahrhundert von Vancouver abgelöst wurde, war Victoria das Zentrum der Holzwirtschaft in British Columbia. Es bleibt der einzige Ort auf dem Kontinent, wo immer noch Straßen zu finden sind, die aus Blöcken von Tannen-Hirnholz bestehen, die man an einandergelegt hatte wie in anderen Städten Pflastersteine, und als Fußgänger meint man, auf einem riesigen Metzgerblock zu spazieren. Man kann es sich heutzutage kaum vorstellen, aber unter den hübschen Blumen, den geschmackvollen Regierungsgebäuden und dem bildschönen Hafenviertel sind die Wurzeln eines primitiven Handelspostens des Empire begraben, der von Beamten der Kolonialregierung bewohnt wurde, von Holzfällern, Seeleuten, chinesischen und hinduistischen Arbeitern – sowie traumatisierten Ureinwohnern vom oberen Küstenstrich. Unter der mittellosen und demoralisierten Ureinwohnerbevölkerung lösten Alkohol, Prostitution und Geschlechtskrankheiten einander in schneller Folge ab, und es war nicht ungewöhnlich, dass aus ehemaligen Kriegern Zuhälter wurden, die ihre Sklaven und sogar eigene Familienmitglieder verkuppelten, sobald sie in die Stadt gekommen waren. In manchen Fällen bediente man sich der Prostitution, um
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