Am Ende der Wildnis
Mittel für Potlatch-Zeremonien aufzubringen, die im Geheimen abgehalten wurden, weil die kanadische Regierung sie 1884 für ungesetzlich erklärt hatte.
Weitere Nägel wurden in den Sarg der Kultur getrieben, als man Generationen von Haida-Kindern ihrem Zuhause entriss und in Internaten unterbrachte, in denen sie mit Kindern aus anderen Stämmen zusammengesteckt wurden, Kindern, denen es erging wie Cora Gray. Die meisten sprachen kein Englisch, und die Sprachen der Ureinwohner waren verboten. Ziel der Regierung war es, diese Kinder von ihren »unverbesserlichen« Eltern zu trennen und zu christlichen Lohnempfängern zu erziehen. Vielen Weißen erschien diese Handlungsweise als vernünftig, ja sogar barmherzig. Die alten Sitten hatten ihr Ende gefunden, das war klar, und selbst wenn sie wieder zum Leben erweckt werden könnten, wären viele Aspekte des damaligen Lebens – Sklaverei, Kriegszüge und Überfälle, um nur einige zu nennen – unter dem neuen Regime unhaltbar. Die er zwungene Anpassung hatte jedoch in vielen Fällen katastro phale Folgen. Generationen von Kindern wurden nicht nur gedemütigt, geschlagen und vergewaltigt, sie wuchsen zudem in totaler Isolierung von ihren Familien und ihrer Kultur auf. Sie brachten nicht die geringsten Voraussetzungen mit, der Welt ihrer Eroberer teilhaftig zu werden (und waren dort auch nicht willkommen). Nach ihrer Entlassung aus den Internatsschulen zogen so manche dieser Kinder nach Süden – zuerst nach Victoria und später nach Vancouver –, und viele kehrten nie wieder zurück. Diese Praxis, die einer Kasernierung in Internaten gleichkam, begann vor fast vierhundert Jahren im östlichen Kanada und endete erst in den 1970ern. Mehrere Zehntausend Schadenersatzklagen gegen Kirchen und Bundesregierung wegen Missbrauchs während des Aufenthalts in diesen Institutionen haben sich inzwischen angesammelt.
Weitergetragen wurde die Kultur eher von denjenigen, die durch das Netz der Regierungsbeamten schlüpften und sich nicht in den Internatsschulen kasernieren ließen. Diese Kinder blieben daheim bei ihren Eltern und Großeltern; sie erlernten die Sprache, hörten die Geschichten, erwarben die Fertigkeiten, und eine Handvoll von ihnen machte sich an die Sisyphusaufgabe, die angeschlagenen Überreste ihres uralten Erbes wieder zusammenzufügen. Einwohner von Old Masset standen an der gesamten Küste als Schnitzer und Kanubauer in hohem Ansehen, und um die vorletzte Jahrhundertwende war es ihnen schließlich gelungen, sich neu zu orientieren, und sie vermochten Schoner und Fischerboote herzustellen, die mindestens so schlank und robust waren wie alle anderen, die an der Küste gebaut wurden. In den 1940ern kreuzte eine feste Flotte von Fischerbooten, die von Haida gebaut worden waren, in den Gewässern um die Inseln. Wie auch heutzutage finanzierten viele Fischer ihre Boote mit Krediten, die von ebenden Firmen stammten, die ihre Produkte abnahmen. Während der 1950er-Jahre fiel ein großer Teil der Flotte wegen nicht bezahlter Schulden in die Hände der Fischereiunternehmen, und viele Haida-Fischer wurden Lohnarbeiter auf ihren eigenen Booten. Während die Kunst des Kanubaus seither wiederbelebt wurde, haben die Masset Haida die Kunst des modernen Bootsbaus verlernt und damit auch die Kontrolle über ihre ökonomische Zukunft. Sie gewannen jedoch etwas zurück, das sich am Ende wohl als wichtiger erweisen wird: ihre Legenden und Zeremonien – den Kern ihrer Kultur.
Bis sie genügend Neugier aufbrachten und den Mut fanden, das Verlorene zu suchen und neu zu beleben, mussten Jahrzehnte vergehen. Ein außergewöhnlicher Wiederent deckungsprozess nahm in den 1960er-Jahren seinen Anfang, als Haida-Handwerker die vergessen geglaubten Künste des Pfahlschnitzens, der Maskenherstellung und des Kanubaus allmählich wieder aufleben ließen. Mit umfangreicher Hilfe engagierter Menschen und Organisationen jenseits ihrer Insel haben die Haida eine Bravourleistung der Regeneration vollbracht. Sie haben die Erinnerungen der noch lebenden Ältesten ausgewertet und mit Museumsbesuchen in aller Welt in Verbindung gebracht, um sich aufs Neue mit dem vertraut zu machen, was während des 19. Jahrhunderts verlorengegangen, gestohlen und verkauft worden war. Und sie fahren damit fort: Frühe Filme und Tonaufnahmen, die von Anthropologen gemacht wurden, helfen ihnen dabei, sich ihre Lieder und Tänze ins Gedächtnis zu rufen. Gebeine von Ahnen werden aus Museumsbeständen zurückgefordert und
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