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Am Ende der Wildnis

Am Ende der Wildnis

Titel: Am Ende der Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Vaillant
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aufgebraucht, und es schneite noch immer. Einer nach dem anderen starben die Dorfbewohner an Kälte und Hunger, bis nur noch zwei Menschen übrig waren: ein alter Mann und sein Enkel. Sie sahen ein, dass ihnen nur eine Hoffnung blieb: Sie mussten versuchen, aus ihrem todgeweihten Dorf zu fliehen. Der Schneesturm wütete noch immer, als sie sich den Weg nach draußen gruben. Und als sie einige Meilen hinter sich gebracht hatten, stellten sie zu ihrer Verblüffung fest, dass im Wald der Sommer herrschte.
    Als sie auf der Suche nach einer neuen Heimat einherschritten, sprach der alte Mann eine Warnung aus. »Blicke nicht zurück«, sagte er zu dem Jungen. »Denn wenn du es tust, wird es dich in die nächste Welt versetzen. Die Menschen werden dich bewundern, aber sie werden nicht mit dir sprechen können. Du wirst dort stehen bis zum Ende der Welt.«
    Aber der Weg war lang und ermüdend, und der Junge vermisste sein Angelgerät. Er konnte sich nicht beherrschen und riskierte einen letzten Blick auf die einzige Heimat, die er je gekannt hatte. Als er es tat, schlugen seine Füße Wurzeln im Waldboden. Der Junge rief um Hilfe, aber trotz größter Anstrengungen seines Großvaters war er nicht zu befreien und blieb im Boden verwurzelt. »So soll es denn sein, mein Sohn«, sagte der Großvater des Jungen. »Noch die allerletzte Generation wird dich betrachten und sich an deine Geschichte erinnern.«
    Dieser Junge war es, der zur goldenen Fichte wurde. An allen Ecken und Enden der Küste gibt es Geschichten von Felsen, Inseln und Bergen, die verwandelte Menschen, Tiere und Geister verkörpern sollen. Sogar Vancouver hat seinen Siwash Rock, eine fünfzehn Meter hohe Sandsteinsäule, die ebenfalls einen ungehorsamen Jungen darstellt, der verwandelt wurde, nachdem er den Göttern getrotzt hatte.
    Aber von allen bekannten Verwandlungen in Haida- und Westküsten-Legenden ist die der goldenen Fichte die einzige, bei der ein lebendes ******** Wesen im Spiel ist, das für jedermann zu sehen ist, ob Ureinwohner oder Fremdling, ob vertrauensvoll oder skeptisch.
    Die goldene Fichte war auf einzigartige Weise geeignet, jede Kluft von Zeit und Kultur zu überbrücken. Bäume sind die einzigen unübersehbaren lebenden Objekte mit so gewaltiger zeitlicher Reichweite, und kein anderer Baum war auf so eigentümliche Weise unverwechselbar, so unbestreitbar anders , dass er augenblicklich von allen Menschen erkannt werden konnte, unabhängig davon, welcher Kultur sie entstammten oder in welchem geschichtlichen Augenblick sie auf ihn trafen. Wäre sie in Frieden gelassen worden, hätte die goldene Fichte bis ins 26. Jahrhundert leben können. Ihr Stumpf zeigte nicht das geringste Anzeichen von Fäulnis, obwohl bei über zweihundertfünfzig Jahre alten Bäumen an der Küste ein gewisser Grad innerer Vermoderung normal ist.
    Zu dieser Version der Geschichte von der Entstehung des goldenen Jungen der Haida gibt es Variationen. Eine davon will uns sagen, dass der Schöpfer den Schnee als Strafe für die Kämpfe unter den Stämmen geschickt hatte, eine andere schreibt die Schneemassen einem allgemeinen Mangel an Respekt vor der Natur zu, symbolisch demonstriert dadurch, dass der Junge seine eigenen Exkremente verlacht. Eine weitere Version beschreibt die beiden Hauptakteure als die einzigen Überlebenden einer Pockenepidemie, die für immer leben wollten. Eine weitere Variante dieser Geschichte behauptet, dass der Baum so lange leben würde wie die Haida Nation und dass sein Tod das Ende des Stammes ankündigen werde. »Wie auch immer man es ausdrückt«, bemerkte der Älteste Robin Brown, »die Leute werden einem widersprechen.« Menschen, die mit dem geschriebenen Wort groß geworden sind, mögen Abweichungen dieser Art als Ungereimtheiten ansehen, aber man möge sich daran erinnern, dass beispielsweise vor der Veröffentlichung der ersten englischen Wörterbücher im 17. Jahrhundert sogar die Schreibweise höchst subjektiv entschieden wurde; jede schriftliche Wiedergabe eines Wortes war Ergebnis der spontanen persönlichen Entscheidung einer Einzelperson. Mündliche Traditionen sind da nicht anders; jede Version einer Geschichte ist in hohem Maße vom Gedächtnis ihres jeweiligen Erzählers abhängig, von seiner Redlichkeit, seinen Absichten und dem erwünschten Publikum, aber sie richtet sich auch nach den aktuellen Interessen des Erzählers, der Zuhörer und der Zeitläufe.
    Zugrunde liegt der Geschichte von der goldenen Fichte jedoch eine ganz

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