Am Ende der Wildnis
Hadwin bestand in der Intensität und den Begleitumständen. Hadwin schrieb, er habe auf einem Berg in der Nähe von McBride, British Columbia, ein spirituelles Erlebnis gehabt, in dem ihm seine früheren Sünden vergeben worden waren und in dessen Verlauf er auserwählt worden sei, als Sprecher des Schöpfers allen Lebens dem Rest der Menschheit eine Botschaft zu überbringen. Ein solches Erlebnis wird, abhängig davon, wann und wo es stattfindet, verschieden benannt. Vor ein- oder zweitausend Jahren wäre es wohl als eine Vision oder Offenbarung bezeichnet worden, und die Person, die Anspruch darauf erhob, wäre vielleicht unbeachtet geblieben wie ein Narr, ver ehrt worden wie ein Gott oder umgebracht wie ein Ketzer – manchmal sogar alles zusammen. In jüngeren Zeiten werden viele derjenigen, die sich religiösen Orden an schließen, nicht angeheuert oder von Headhuntern vermittelt, sondern berufen – wie von einer Stimme. Wenn heutzutage jemand urplötzlich von einem bewusstseinsverändernden Erlebnis erwischt wird, nennt er es vielleicht eine Epiphanie, eine Erweckung oder eine religiöse Erfahrung, während Fachleute lieber von einer Wahnvorstellung, einer Halluzi nation oder einer psychotischen Episode sprechen. Die Wahrheit findet sich oft irgendwo in der diffusen Mitte, und doch beharren Milliarden von Menschen darauf, sich in ihrem Leben von solchen grenzgängerischen Persönlichkeiten leiten zu lassen, von denen die meisten – wie Jesus, Buddha, Mohammed und dem Mormonen Brigham Young – schon lange und mit Sicherheit tot sind. Wären sie heute am Leben, vegetierten sie wohl unter Einfluss starker Medikamente in einem Niemandsland, oder wären, wenn sie Glück gehabt hätten, vielleicht zu Dr. Lukoff geschickt worden.
Dr. David Lukoff ist ein Psychologe, der in Harvard und an der UCLA gelehrt hat und jetzt am Saybrook Institute in San Francisco arbeitet; er hat sich darauf spezialisiert, Menschen zu behandeln, die mit ähnlichen Geschichten aufwarten wie Hadwin. Und in dem Rahmen hat Dr. Lukoff einen Begriff geprägt, der vielleicht besser auf diese dramatischen persönlichen Erlebnisse anwendbar ist: »spirituel ler Ausnahmezustand«. Während eines spirituellen Ausnah mezustands findet man oft Zugang zu dem, was Michael Harner, ein bekannter Anthropologe und Experte für den Schamanismus, »außer-gewöhnliche Realität« nennt. Während die meisten von uns die Vorstellung, dass es solche Erfahrungen gibt, beängstigend finden, begeben sich die Schamanen aktiv auf die Suche nach ihnen. Wade Davis, der bekannte Ethnobotaniker, bemerkte einmal zu einem Journalisten: »Ich bin noch nie einem Schamanen begegnet, der nicht irgendwie psychotisch war – das ist eben sein Job.« Wie Harner und Davis ist Lukoff ein intimer Kenner dieses Nachbaruniversums, weil er selbst dort einige Zeit verbracht hat; ja, in der Tat machte Lukoff eine Erfahrung, die verblüffende Ähnlichkeit mit der Hadwins besaß – bis hin zu dem wohltätigen und den Planeten heilenden Utopia, das er sich ausmalte, und dem zwanghaften Drang, seine Vision niederzuschreiben und der Welt zu offenbaren (Hadwins »Gericht« ist auf mindestens drei Kontinenten verbreitet worden). Lukoff, der damals zwanzig war, brauchte Monate, um sein seelisches Gleichgewicht wiederzufinden und einzusehen, dass er keinen zentralen Platz im Universum einnahm, sondern nur einer unter vielen war. Dennoch waren es diese Erfahrung und ihre schmerzlichen Nebenwirkungen, die ihm verhalfen, seine Berufung zu er kennen, die darin bestand, den heutigen Nachfolgern von Hesekiel, dem heiligen Antonius und Hildegard von Bingen zu helfen, die völlig unvorbereitet in Zustände glühenden außerweltlichen Bewusstseins katapultiert werden.
1985 schlug Lukoff der American Psychiatric Association vor, eine neue Kategorie in das Diagnostic and Statistical Manual ( DSM ) aufzunehmen. Er wollte sie »Mystische Erfah rung mit psychotischen Merkmalen« (Mystical Experience with Psychotic Features) nennen. Lukoff und seine Kollegen pochten unter anderem darauf, weil jüngste Umfragen einige überraschende Daten über Patienten der Psychiatrie und diejenigen, von denen sie behandelt werden, zutage brachten. Trotz der Tatsache, dass fast drei Viertel der befragten Patienten darauf verwiesen, während der Behandlung religiöse oder spirituelle Bereiche angesprochen zu haben, und zwei Drittel von ihnen während der Diskussion über ihre Erfahrungen eine religiös gefärbte Sprache
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