Am Ende der Wildnis
Margaret, die allen Grund zur Skepsis hatte, behauptete, Prüfstein seines Wohlbefindens würde sein, ob er seine Tochter zum Geburtstag anrief. Hadwin mochte in gro ßen Schwierigkeiten stecken, aber er blieb immer noch Va ter und auf seine ureigene Weise auch ein verlässlicher Vater. Als der 1. März kam und das Telefon nicht klingelte, befürchtete Hadwins Noch-Ehefrau allmählich das Schlimmste, und die Canadian Coast Guard begann eine konzentrierte Suche. US-Behörden waren ebenfalls alar miert worden.
Für einige Mitglieder der U. S . Coast Guard dürfte sich dabei ein eigenartiges Déjà-vu-Gefühl eingestellt haben, denn sie hatten schon einmal nach Hadwin gesucht. Im Frühling 1993, als er sich, von Paranoia heimgesucht, im Norden aufhielt, machte er einen nicht befristeten Abstecher zum Alexander Archipelago in Alaska, ungefähr dreihundert Kilometer nördlich von Haida Gwaii. Ob wohl sich diese Inselgrupp e eng an die zerklüftete Küste schmiegt, sieht sie doch aus wie ein Spiegelbild ihres kanadischen Gegenstücks. Hadwin landete in Sitka, der ehemaligen Hauptstadt von Russisch-Amerika. Die einstmals wichtige Pelzhandelsstation ist seit jeher eine der am schönsten gelegenen Gemeinden an der Küste. Die Sitka-Fichte verdankt dieser befestigten Stadt ihren Namen, und hier kam es während der Ära des Pelzhandels zum mit Abstand größten Massaker. Die Redoute St. Micha el, wie Sitkas Vorgängerin hieß, war auf dem Gebiet der Tlingit errichtet worden, und 1802 griffen Krieger mit Tierkopfhelmen und in hölzerner Rüstung die Stadt an. Sie töteten vierhundert Einwohner und versklavten die übrigen. Nur eine Handvoll Menschen entkam. Zwei Jahre später eroberten die Russen den Ort mithilfe von Schiffskanonen zurück. So fernab gelegen die Siedlung auch heute erscheinen mag, galt sie doch einst als »das Paris des Pazifiks«, und während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war sie die wichtigste Hafenstadt an der West Coast.
Kurz nachdem er dort angekommen war, mietete sich Hadwin einen Kajak vom Vorsitzenden der Greenpeace- Sektion Alaska; er hatte vor, eine Woche lang zu paddeln, blieb aber dann doch zwei Wochen lang weg. Als er am verabredeten Tag nicht zurückgekehrt war, wurde eine ausgiebige Suche gestartet, an der Boote der Coast Guard und Flugzeuge, örtliche Polizei und State Trooper sowie ein »Search&Rescue«-Team aus Freiwilligen teilnahmen. Als Erstes fand man Hadwins verlassenen Campingplatz am Fuße eines gigantischen schneebedeckten Vulkans an der Südküste von Kruzof Island, westlich von Sitka und am äußeren Rand des Archipels. Der Platz sah aus, als sei Hadwin gerade erst weggegangen und habe sein Zelt, seine Kochutensilien, seine Kajakpaddel, seine Spritzdecke und zahlreiche andere Gegenstände einfach zurückgelassen. In dieser Gegend lebten viele Bären, und daher fragte man sich sofort, ob er vielleicht angegriffen worden war. Doch die Rettungshunde fanden nichts. Dafür hatte aber ein Suchflugzeug Hadwins Kajak entdeckt. Er schwamm kieloben in der Nähe von St. Lazaria Island, einem kleinen Vogelschutzgebiet vor der Südspitze von Kruzof. Hadwins Rucksack war auf das Achterdeck geschnallt, und darin fand man ein Schriftstück, das anfangs für den Abschiedsbrief eines Selbstmörders gehalten wurde. Bei näherer Untersuchung erwies es sich jedoch als etwas weitaus Ungewöhnlicheres.
Normalerweise sind Berichte von Search-and-Rescue-Teams streng formal abgefasst – komprimiert in der höchst technischen Kurzschrift von Fliegern, Seeleuten und Meteorologen. Am Ende der Berichtsformulare ist Platz für »Bemerkungen«, und hier fiel der Beamte, der damit beauftragt war, den Hadwin-Bericht zu schreiben, einen Moment aus der Rolle und kritzelte: »Das war der Hammer!« Wenn man umblättert, sieht man, was er meint; an dieser Stelle meldet sich Hadwin zu Wort. Das beigefügte Dokument trägt den Titel THE JUDGEMENT (Das Gericht). Es ist fünfzehn Seiten lang und fehlerfrei getippt. Wenn man bedenkt, dass der Text von einem Schulabbrecher stammte, der sich gezwungen gesehen hatte, zuerst sein Heimatland zu verlassen und schließlich auch seinen Zeltplatz, weil er glaubte, von der CIA überwacht zu werden, ist man erstaunt, wie abgewogen und stichhaltig das klingt, was er zu sagen hat. Bemerkenswerter ist jedoch, dass Hadwin, anders als die Autoren der meisten Manifeste, Tiraden, Strafpredigten und religiösen Suaden, nicht damit beginnt, dem Leser vorzuschreiben, was er denken
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