Am Ende der Wildnis
dreißig Kilometer von Hadwins ursprünglichem Zeltplatz entfernt, Rauch gesehen habe. Ein Schiff der Coast Guard wurde dorthin geschickt und von dem Mann, der seit mehr als einer Woche vergeblich gesucht worden war, nicht sonderlich begeistert empfangen. Bericht der Coast Guard: »Das Verhalten der Person machte auf uns den Eindruck, dass sie eigentlich gar nicht gefunden werden wollte.«
Wenn Hadwin beabsichtigt hatte, allem zu entfliehen, dann war der Rückzug auf eine vom Wind umtoste Felskuppe mit Blick über den Nordpazifik und einem schlafenden Vulkan im Rücken eine kluge Entscheidung. Die frühchristlichen Mönche hätten zugestimmt, auch wenn Search & Rescue anderer Meinung war. Warum Hadwin einen so exponierten Ort gewählt hatte, bleibt ein Rätsel. Es könnte ein Ort gewesen sein, an dem er sich direkt mit dem Schöpfer verbunden fühlte, oder vielleicht wollte er sich selbst eine Prüfung auferlegen. Vielleicht übertönten der Wind und die Brandung das Getöse in seinem Kopf, so wie die Ohrstöpsel den Rest der Welt hatten verstummen lassen, bevor er die goldene Fichte fällte. Aber es mochte auch der einzige Ort außerhalb eines Zelts gewesen sein, an dem er nicht lebendig von Mücken aufgefressen wurde. Der Juni ist in Alaska ein äußerst schlimmer Mückenmonat. Normalerweise ist eine Windstärke von fünf oder sechs Knoten nötig, um sie in Schach zu halten, aber selbst dann lauern sie in Lee und harren darauf, dass die Brise abflaut. Mückenschwärme bilden sich so dicht, dass sie für kurze Zeit wolkenähnliche Formen annehmen können. Und daraus ergibt sich die vermutlich einmalige Situation, in der man in Windrichtung auf seinen Schatten blicken kann, in dem das eigene Blut zirkuliert.
Laut Bericht der Coast Guard hatte Hadwin seit »vielen Tagen« von Muscheln gelebt; seine nicht willkommenen Retter bemerkten, dass die Büsche hinter seinem Platz voller Muschelschalen waren. Er behauptete, seinen Kajak oberhalb der Flutlinie an der Südspitze der Insel zurückgelassen und sich dann entschlossen zu haben, »eine Wanderung zu machen«. Kurz darauf sei ein starker Sturm aufgekommen, sodass der Kajak wohl fortgeschwemmt worden sei. In der Annahme, dass sein Boot nach einem solchen Windstoß sowieso weg sei, habe er sich nicht die Mühe gemacht, zurückzugehen und nach ihm zu suchen. Hadwin hatte keinen Schlafsack und daher unter freiem Himmel gelebt, seit er zehn Tage zuvor seinen Zeltplatz verlassen hatte. Trotz des Sturms und der nächtlichen Temperaturen um die null Grad war ihm warm, und er erfreute sich bester Gesundheit. Außer seinen Kleidern am Leib besaß er nur Streichhölzer in einer Plastiktüte und etwas Kaffee.
KAPITEL ELF
Die Suche
Ein Baum hat Hoffnung, wenn er schon abgehauen ist, dass er sich wieder erneue, und seine Schösslinge hören nicht auf … Aber der Mensch stirbt und ist dahin; er verscheidet, und wo ist er?
Buch Hiob, 14, 7-10
(Lutherbibel 1912)
B eim zweiten Mal würde Hadwin viel schwerer zu finden sein, aber während der Monate nach seinem Verschwinden wurde er tatsächlich einige Male gesehen, wenn auch nur flüchtig und zur Frustration derer, die nach ihm suchten. Jemand meinte ihn in Bella Bella entdeckt zu haben, einer extrem abgelegenen Ureinwohnergemeinde auf einer der Inseln vor der Küste, wo ein Typ wie Hadwin auffiel wie ein bunter Hund. Jemand anders meinte ihn oben in Hyder am Nordende des Portland Canal gesehen zu haben, einer gleichermaßen abgelegenen Gemeinde von Anglos, wohin er bestens gepasst haben würde. Hyder ist ein Wurmloch an der Grenze zwischen Kanada und den USA , ein kleines Stück Alaska, das nur übers Wasser oder den Highway 37-A zu erreichen ist. Es handelt sich um einen Ort, in dem – wie ein Alaska State Trooper sagte – »jeder verdächtig ist«. Während seiner ausgiebigen Reisen durch das North Country hielt Hadwin sich dort 1996 mehrere Male auf. Die unbefestigte Straße, die mitten durch die Stadt führt, endet schließlich als Sackgasse an einem Gletscherfeld, und das könnte einer der Gründe gewesen sein, warum Hadwin der Ort gefiel. Anziehend dürfte auch die dortige Atmosphäre verbissener Aufmüpfigkeit auf ihn gewirkt haben. Im Laufe der vergangenen dreißig Jahre sind in Hyder die Zollgebäude der USA und Kanadas beschossen oder niedergebrannt worden, und Ureinwohner wie Anglos haben das Personal immer wieder belästigt und schikaniert. Bei einer Gelegenheit wurde der kanadische Grenzposten Opfer einer Kampagne
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