Am Ende der Wildnis
Sperrholzhaus, in dem sich das Freizeitzentrum befindet. Fünf Kilometer nordwestlich an einer schmalen Strandstraße liegt das Haida-Reservat Old Masset. Das Gerichtsgebäude ist ein postmoderner Turmbau zu Babel aus Aluminium und Glas, dessen Innenraum von weißem Linoleum und Neonlicht bestimmt wird. Es handelt sich um einen der abgelegensten und modernsten Außenposten der Krone.
Bis heute wird man dort nicht einfach nur wegen Gesetzesübertretungen angeklagt, sondern auch wegen Störung des » PEACE OF OUR LADY THE QUEEN HER CROWN AND DIGNITY «. Wenn man jedoch vor dem Gerichtsgebäude von Masset steht, den Raben zuhört, die wie Ratschen knattern, während sie die Mülleimer durchstöbern, und zuschaut, wie das schwache Morgenlicht seinen aussichtslosen Kampf gegen nordpazifische Sturmwolken verliert, dann könnten die Queen und besonders die Hauptstadt Millionen Meilen entfernt sein. Dennoch schien Rechts staat lichkeit den Ton anzugeben. Der befürchtete Lynchmob war nirgends zu entdecken. Stattdessen wartete eine Schlange von Menschen mit dem Rücken zum Wind und in schwe ren Mänteln und mit Hüten auf dem Kopf an der Tür zum Gerichtsgebäude. Im alltäglichen Leben auf Haida Gwaii hatten Metalldetektoren keinen Platz, aber an diesem Tag wurde jedermann gescannt. Drinnen waren Korridor und Wartesaal schon bald bis an den Rand gefüllt, und viele mussten vor den Türen bleiben. Im kleinen Gerichtssaal, der wegen der dichten Menschenmenge und der feuchtstickigen Luft noch enger wirkte, war die gespannte Erwartung fast greifbar. Ein Querschnitt durch die Inselbe völkerung war anwesend: Häuptlinge und Stammesälteste, Holzfäller und Fischer, Hausfrauen und Ladenbesitzer saßen steif aufgereiht auf hölzernen Bänken und warteten darauf, den Mann zu Gesicht zu bekommen, in dem viele einen persönlichen Angreifer sahen.
Wegen der Abgelegenheit der Inseln fehlt ein ortsansässi ger Richter, und daher wird einmal im Monat ein Provinz richter eingeflogen, um anliegende Rechtssachen zu ver handeln. Aus diesem Grund befanden sich dicht gedrängt unter den Leuten, die auf Hadwin warteten, andere Insel bewohner, deren Fälle am selben Tag zur Anhörung kommen sollten. Normalerweise wurden solche Verfahren diskret abgewickelt, aber an diesem Morgen mussten sich diejenigen, denen man vorwarf, einen Außenbordmotor gestohlen zu haben oder betrunken gefahren zu sein, den argwöhnischen Blicken fast eines Viertels der erwachsenen Bevölkerung von Masset stellen: hochnotpeinlich und auch ein bisschen unwirklich.
Thomas Grant Hadwin wurde um halb zehn aufgerufen, und gleichzeitig mit einem kollektiven Durchatmen schweif ten hundert Augen durch den Raum. Da nur wenige Inselbewohner wussten, wie Hadwin aussah, waren die meisten sich nicht sicher, nach wem sie eigentlich Ausschau hielten, und achteten nur auf eine ungewohnte Bewegung, das Gesicht eines Fremden oder das Abbild eines Mannes, das sie im Kopf hatten. Schlussendlich zeigte sich weder ein neues Gesicht noch ein neues Energiefeld; der Gerichtssaal blieb derselbe, und alle schauten nur einander an, während die fünf Silben seines Namens in der Luft hingen. Was als Haiku begonnen hatte, endete als Koan. Selbst als klar war, dass sich Hadwin nicht im Gebäude befand, ging niemand. Alle warteten, fragten sich, wo er wohl sein mochte: in Gewahrsam, in einem Versteck, auf der Flucht, tot – oder nur verspätet? Hadwins Name wurde um zehn Uhr nochmals aufgerufen, und diesmal erhob sich jemand und trat in den Gang. Ganz kurz dachten einige im Saal, dass es Hadwin sein könne, aber er war es nicht. Es war ein Mann namens James Sterritt vom Stamm der Gitxsan, und er behauptete, Hadwin habe ihn damit betraut, ihn zu vertreten. Sie waren übereingekommen, sich bei diesem Gerichtstermin zu treffen, sagte Sterritt, aber seit zwei Wochen habe er nichts mehr von Hadwin gehört. Als der Richter von ihm wissen wollte, ob er autorisiert sei, an Hadwins Stelle zu agieren, gestand Sterritt ein, dass dem nicht so war. In diesem Moment war Hadwin zu einem Rechtsbrecher auf der Flucht geworden.
Als Hadwins Noch-Ehefrau hörte, dass Grant vermisst wurde, machte sie sich anfangs nicht die geringsten Sorgen. Er war schon öfter verschwunden und hatte anscheinend nicht immer die Wahrheit gesagt, wohin es ihn getrieben hatte. Mit einem weiteren Haftbefehl bewaffnet, begann sich die RCMP jetzt für diesen Menschen zu interessieren, zumal seine Ehefrau ihn als »unverwüstlich« beschrieb.
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