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Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition)

Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition)

Titel: Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Glaubrecht
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Hütte.
    Es ist stickig heiß, der Mann liegt in Schweiß gebadet, dennoch zieht er die Decken eng um sich. Sein malträtierter Körper wehrt sich abwechselnd mit Hitzeschüben und Schüttelfrost gegen die Malaria-Erreger in seinem Blut. Von Kopf- und Rückenschmerz gepeinigt liegt er da, träumt mehr, als dass er klar denkt. Oft schon haben ihn während seiner jahrelangen Reisen durch die feucht heißen Tropen solche Fieberschübe geplagt. Er kennt den Rhythmus der Attacken, die ihn nachmittags für zwei oder drei Stunden aufs Lager werfen, dann sind die Schübe vorüber. Weil er sich nicht auf den Beinen halten kann, bleibt ihm nicht mehr zu tun, als abzuwarten. Er nutzt die Zeit zum Nachdenken.
    Als ihn das Fieber wieder packt, grübelt er einmal mehr über die Frage, die ihn nun schon seit mehr als einem Jahrzehnt begleitet und quält, bohrend wie die Pein in seinem glühenden Kopf. Auch an diesem Tag verfolgt ihn das Rätsel bis in seine Fieberphantasien: Diese überbordende Vielfalt der verschiedensten Arten in den tropischen Regenwäldern und auf den Inseln des Archipels – wie ist sie zu erklären? Wie entstehen all diese Spezies? Noch entscheidender vielleicht: Was setzt ihrer Vermehrung Grenzen? Wie wird verhindert, dass die Nachkommen dieser Tierformen die Erde millionenfach überschwemmen?
    Seit fast vier Jahren ist er nun schon unterwegs in der Inselwelt des Malayischen Archipels. Gerade erst sind ihm auf den Aru-Inseln vor der Küste Neuguineas einige Schmetterlingsarten aufgefallen, die zwar auf anderen Inseln weiter westlich und östlich ebenfalls vorkommen, dort aber ein wenig anders aussehen. Nicht zum ersten Mal hat er solche Abwandlungen bemerkt. Immer wieder ist er auf Arten gestoßen, die solche geographischen Varianten hervorbringen. Zwar sehen sie von Insel zu Insel immer wieder etwas anders aus; andererseits sind sie einander aber trotz aller Unterschiede in Färbung und Zeichnung doch zu ähnlich, um als völlig getrennte und eigene Arten gelten zu können. Dass dabei ein göttlicher Schöpfer seine Hand im Spiel hat, gar einer mit einem Hang zum Verspielten, zum Experimentieren, bezweifelt er bereits seit Langem.
    Jetzt, im Fieberwahn auf seine Pritsche gefesselt, überfällt ihn plötzlich die Eingebung seines Lebens: Wirken sich solche Abweichungen von der Norm nicht auf das Leben der betreffenden Tiere aus? Was passiert beispielsweise, wenn sich die Umwelt auf den Inseln ändert? Und was, wenn eine dieser geographischen Spielarten besser an die neuen Verhältnisse angepasst ist als die anderen? Hätte sie nicht entsprechend günstigere Aussichten zu überleben? Noch wichtiger: Über kurz oder lang hätte sie auch mehr Nachkommen. Solche Vorteile bei der Fortpflanzung müssten schließlich, während eines schier endlosen Zeitraums mit weiteren Veränderungen, die Bestände der Angepassten anwachsen lassen. Über zahllose Episoden solcher Abänderungen und Anpassungen käme es zu einer Abfolge nahe verwandter Arten. Natürlich, diese Auslese ist der Ursprung neuen Lebens.
    Ein »hastiger erster Entwurf«: Da ist sie, die Antwort auf seine dringendste Frage, die Lösung des Rätsels von der »Transmutation« – der Evolution, wie man später sagen wird. Endlich ist dem Fiebernden in seiner Hütte klar, wonach er die Jahre hindurch gesucht hat: Es muss die Umwelt sein, begreift er, die bei diesem allgegenwärtigen Kampf ums Dasein die Auswahl trifft. Stets sind es die äußeren Umstände wie Veränderungen des Klimas, des Nahrungsangebots, etwaige Konkurrenten oder Feinde: Die Natur selbst merzt die Mehrzahl aller Nachkommen aus; nur die jeweils Tauglichsten überleben, sie vermehren sich und geben ihre vorteilhaften Merkmale an die folgenden Generationen weiter. Dank dieses natürlichen Prozesses der Auslese der am besten Angepassten entwickeln sich im Laufe der Zeit neue Arten. Dies muss jenes »generelle Prinzip« sein – gleich einem Naturgesetz, das ihm so lange keine Ruhe ließ. Dabei ist es durchaus naheliegend – jetzt, wo es gedacht ist, eine ebenso brillante wie simple Idee.
    In der nächsten Stunde versucht der noch immer Fiebernde, die Vor- und Nachteile seiner neuen Theorie abzuwägen. Er kann das Ende der Fieberschübe kaum erwarten, um seine Gedanken endlich zu Papier zu bringen. Noch am selben Abend skizziert er den ersten Entwurf seiner Überlegungen. Während der nächsten beiden Abende präzisiert er seine Formulierungen. Schließlich, am dritten Tag, stellt er das

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