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Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition)

Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition)

Titel: Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Glaubrecht
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knapp zwanzigseitige Manuskript mit dem Aufsatz »On the tendency of varieties to depart indefinitely from the original type« fertig; Über die Neigung der Varietäten, sich unbegrenzt aus ihrer Ausgangsform zu entwickeln. Dieser Aufsatz wird Geschichte machen und nicht weniger das Manuskript dazu.
    Die Hütte, in der er seine Aufzeichnungen macht, liegt an einem der abgelegensten Flecken der Erde, von dem kaum jemand einmal gehört hat. Dodinga auf Gilolo – oder Halmahera, wie die Malaien und Holländer die Insel nennen; »an der Spitze einer tiefen Bucht, Ternate gerade gegenüber gelegen, ein kleines Stück ein Flüsschen hinauf, das einige Meilen landeinwärts führt. Das Dorf ist klein und vollständig von niedrigen Hügeln umgeben.« Hier, beinahe am Ende des Archipels, kommt Alfred Russel Wallace der entscheidende Gedanke, die Idee seines Jahrhunderts. Doch jetzt zögert er, ist unsicher, was er tun soll. Er ist gerade erst fünfunddreißig Jahre geworden und in seiner Heimat durchaus kein ganz Unbekannter mehr; auch wenn jener erste Aufsatz zur Artenfrage, von dem er sich so viel erhofft hat, damals während der Regenzeit in Sarawak, bislang nur wenig Reaktionen ausgelöst hat. Wird es ihm mit diesem neuen Aufsatz vielleicht ähnlich ergehen? Ist sein generelles Prinzip tatsächlich der gesuchte Mechanismus des Artenwandels? Ob sein neuer Einfall wissenschaftlich haltbar ist und wie andere angesehene Naturforscher das einschätzen, kann Wallace nur erfahren, wenn er sein Manuskript in die Heimat schickt.
    Doch an wen? Wieder an die »Annals and Magazine of Natural History«, das Journal, in dem er bereits einiges veröffentlicht hat; wo damals wenige Monate nach Zusendung auch sein Sarawak-Aufsatz erschienen ist? Andererseits, wenn nun an seinem Gedanken nichts wirklich dran ist, sollte er das Manuskript nicht vielleicht vorher an einen kundigen Naturforscher schicken, der diese Idee beurteilen kann? Vielleicht an Henry Bates, so überlegt er; doch der ist auf der anderen Seite der Erde. Es würde nicht nur Monate, sogar ein Jahr oder länger dauern, bis Bates antwortet. Nein, so lange will Wallace nicht warten; so lange kann er nicht warten. Die Vorstellung, das Rätsel tatsächlich gelöst zu haben, lässt ihn regelrecht erschaudern. Oder ist es noch immer das Fieber?
    Er könnte seinen Aufsatz an Charles Lyell schicken, den wohl berühmtesten Naturwissenschaftler seiner Zeit. Der könnte seine Idee sicher beurteilen, auch wenn er der Vorstellung eines Artenwandels eher kritisch, um nicht zu sagen: ablehnend gegenübersteht, wie Wallace aus Lyells Schriften weiß. Doch wenn Wallace’ neue Theorie etwas taugt und zu erklären vermag, wie es in der Natur zugeht, dann ließe sich Lyell vielleicht überzeugen. Allerdings kennt Wallace ihn nicht persönlich, er ist ihm nie vorgestellt worden. Ihm jetzt so einfach schreiben und sein Manuskript beilegen kommt ihm nicht gut vor. Er hatte vor vielen Jahren schon einmal Ähnliches bei einem berühmten, mit astronomischen Beobachtungen beschäftigten Ingenieur gemacht – von dem er dann nie etwas hörte. Wallace könnte seinen Agenten Stevens in London bitten, das Manuskript an Lyell weiterzuleiten. Und dann kommt ihm eine Idee: es an Charles Darwin schicken, natürlich! Darwin könnte es prüfen und gegebenenfalls – sofern davon überzeugt – an Lyell weitergeben. Mit Darwin steht Wallace seit Kurzem in Korrespondenz. Darwin kann er sich gewissermaßen zum Verbündeten gegen Lyells Ablehnung der Idee vom Artenwandel machen. Gerade erst hat Darwin ihm in einem Brief zu seinem Sarawak-Aufsatz gratuliert, mit dessen Aussagen er völlig einverstanden ist, und ihm berichtet, dass er selbst an einem Werk zur Artenfrage arbeite. Natürlich Darwin; wer sonst, wenn nicht er, wäre geeigneter zu beurteilen, ob etwas mit seiner im Fieber geborenen Theorie anzufangen ist.
    Wallace weiß, dass der nächste Postdampfer auf seiner regelmäßigen Tour Anfang März wieder nach Ternate kommt. Auf die Schiffe im holländischen Kolonialdienst ist Verlass. Er muss die Fangsaison hier auf Gilolo beenden, um rechtzeitig hinüber auf die kleine Vulkaninsel zu kommen. Am 1. März 1858, so vermerkt Wallace in seinem Tagebuch, kehrt er nach Ternate zurück. Am 9. März 1858 sieht er das Postschiff »Ambon« in den Hafen von Ternate einlaufen. An Bord Pakete und Briefe aus England für ihn; darunter auch ein weiterer von Charles Darwin. Kurze Zeit später legt der Postdampfer wieder ab.

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