Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition)
Phänomene zusammenzubringen. Die Variabilität oder natürliche Schwankungsbreite in der Ausprägung einzelner Lebewesen kombiniert mit der Übervermehrung, die zu Konkurrenz, Kampf und Auslese führt, treibt die Entwicklung der Arten voran. »Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr wuchs meine Überzeugung, dass ich schließlich das lang gesuchte Gesetz der Natur gefunden hatte, das die Frage nach dem Ursprung der Arten beantwortet«, resümiert Wallace am Ende seines Lebens, als er sich an die Ereignisse auf Gilolo erinnert. Ohne Zweifel verdankt er seinen malthusischen Moment einer Kette von Beobachtungen in reicher tropischer Natur und umgeben von fremdartigen Menschen; Eindrücke, unter denen Wallace zu dieser Zeit ganz unmittelbar steht. Es sind andere Umstände als jene, unter denen Darwin zwei Jahrzente zuvor in London den Essay von Malthus liest und so zu seiner Erklärung der Gesetze des Lebens findet. Und während Darwin später Beispiele und Belege aus seinem Garten- und Gewächshaus-Laboratorium heranzieht, stammen Wallace’ Erkenntnisse aus der Natur.
Es gibt allerdings eine besondere Ironie bei der Malthus-Episode. Sowohl Darwin als auch Wallace erkennen von Malthus’ Beschreibung menschlicher Verhältnisse ausgehend die Wirkung eines Naturprinzips, übertragen die Idee von Übervermehrung und Auslese vom Menschen also auf die Natur. Thomas Robert Malthus war einst den umgekehrten Weg gegangen und hatte die rasche Vermehrung vieler Tiere zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen am Menschen genommen, ohne indes die Zusammenhänge schon wie Darwin oder Wallace klar zu sehen oder gar völlig zu verstehen. Erst wenn es einmal gedacht ist, erscheint es einfach.
Verschollene Dokumente – Rätselhaftes und Ungereimtes: Sooft und dabei so wenig detailscharf die Entdeckung des Evolutionsgedankens in den Geschichtsbüchern kolportiert wird, immer wieder hat die Forschung dazu neue und überraschende Momente zutage gefördert. Bis heute sind darunter aber auch Rätsel. Zudem geistern seit Längerem schon Verschwörungstheorien um Wallace und Darwin. Einerseits ist die Debatte darüber geprägt von der grundlegenden Sympathie für Wallace als den »underdog« im Vergleich zu dem in vielerlei Hinsicht bereits etablierten Darwin. Andererseits ignorieren manche Wallace schlicht und drücken sich so um entscheidende Fragen; darunter vor allem Darwin-Biographen und allen voran Janet Browne, die davon nichts wirklich wissen will.
Den Details gegenüber ignorant haben sich aber auch andere gezeigt. So weist etwa John van Wyhe, der das Darwin-Online-Projekt betreut, gern darauf hin, dass Darwin natürlich seit 1837 in seinen Notizbüchern bereits jene Idee veränderlicher Arten hat und ein Jahr später mit der Selektion auch den verantwortlichen Mechanismus erkannte; auch habe er all dies bereits in seinen Aufsätzen von 1842 und 1844 ausgearbeitet, selbst wenn diese nicht gleich veröffentlicht wurden. Doch geschenkt; denn das beantwortet keineswegs die entscheidende Frage: Ob nämlich Darwin für sein Manuskript des großen Arten-Buches in irgendeiner Weise von Wallace’ Sarawak-Aufsatz 1855 und dann von seinem Ternate-Aufsatz profitiert haben könnte; und ob er dessen Ideen für seine eigene Theorie verwendet, gar bei ihm abgeschrieben haben könnte.
Unübersehbar gibt es einiges Rätselhaftes. So fehlen etwa wichtige Dokumente, Briefe und jenes entscheidende Manuskript, das Wallace an Darwin schickt. Das ist umso auffälliger, als Darwin bekanntermaßen jeden auch noch so kleinen Fetzen Papier, den er einst beschrieben hat, verwahrte und seiner Nachwelt eine enorme Materialsammlung hinterließ; nicht anders verfuhr er mit den zahllosen Briefen seiner Korrespondenten. Sie machen es Historikern überhaupt erst möglich, Leben und Entwicklung der Gedankenwelt von Forschern minutiös zu rekonstruieren. Aber ausgerechnet in der kritischen Zeit, die hier im Vordergrund steht, nicht nur die Monate im Frühsommer des Jahres 1858, sondern bereits seit 1856 und bis weit ins Jahr 1858, klafft eine auffällige Lücke. Auch die ersten Briefe von Wallace aus dem Archipel fehlen in Darwins Archiv; aus ihnen könnten wir deutlicheren Aufschluss über sein Denken erwarten. Kurioserweise fehlen auch die Briefe von Darwin, Hooker und Lyell aus der fraglichen Zeit ihres delikaten Arrangements zur Veröffentlichung von Wallace’ Aufsatz. Je mehr diese dramatischen Momente in den Fokus geraten, desto schmerzlicher vermissen wir
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