Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition)
später. Wallace’ Sendung an Darwin hätte demnach die Molukken-Insel Ternate erst am 5. April 1858 verlassen. Mit dem Schiff wäre Wallace’ Brief dann via Malta und Gibraltar am 16. Juni in Southampton eingetroffen, wäre in den frühen Morgenstunden des 17. mit dem Zug nach London gebracht und einen Tag später, am Morgen des 18. Juni 1858, einem Freitag, in Down House zugestellt worden. Da dies Darwins Darstellung der Ereignisse entspricht, sehen John van Wyhe und Kees Rookmaaker den berühmten Forscher jetzt endlich vom Vorwurf eines Plagiats, der Täuschung und des intellektuellen Betrugs, freigesprochen.
Einspruch!, rufen andere. Was van Wyhe und Rookmaaker da zur Verteidigung aufzubauen versuchen, erweist sich als Rohrkrepierer. Denn für die Annahme, dass Wallace direkt auf Darwins Dezember-Brief antwortet, gibt es keinerlei belastbare Evidenzen. Zwar habe Wallace tatsächlich Darwins Brief mit der Post am 9. März erhalten. Doch es sei absolut unrealistisch und lebensfern anzunehmen, er hätte nicht ungeachtet dessen seinen eigenen, sehr wahrscheinlich bereits Tage vorher verfassten Brief an Darwin mit dem wertvollen Manuskript und seinem genialen Einfall zur Artenfrage an Bord der »Ambon« gebracht. Wallace war sicher viel zu aufgeregt über seine Entdeckung, die er buchstäblich loswerden wollte, als ruhig abzuwarten und das Schiff am 9. März ohne seine Post abdampfen zu lassen. Van Wyhe und Rookmaaker aber stellen sich vor, Wallace habe erst jetzt einen Brief an Darwin geschrieben und diesen dann zusammen mit dem Manuskript im Postbüro von Ternate hinterlegt, bevor er Ende März nach Neuguinea aufbricht. Im Übrigen, so weist Roy Davies anhand seiner Einblicke in Postlaufzeiten und Schiffsverbindungen einmal mehr minutiös nach, hätte ein erst im April 1858 von Ternate mit der »Makassar« abgehender Brief England nicht Mitte Juni (wie van Wyhe glaubt), sondern erst am 2. Juli 1858 erreichen können. Also einen Tag nach der entscheidenden Vorstellung der Wallace-Darwin-Aufsätze vor der Linnean Society. Kein Freispruch für Darwin also.
Der Historiker Charles Smith weist darauf hin, dass wir zwar von Wallace nur seine im Abstand von Jahrzehnten rückblickende Darstellungen der Ereignisse kennen; darin schildert er mehrfach, wie er sein hastig entworfenes Manuskript binnen drei Tagen schreibt und »mit der nächsten Post«, die »ein oder zwei Tage« später abgeht, an Darwin schickt. Es sei schwer vorstellbar, dass Wallace für den Rest seines Lebens vergisst, was sicher eines seiner wichtigsten Erlebnisse gewesen sein dürfte. Doch nirgends ist in seinen Schilderungen auch nur die Andeutung von jener Verzögerung zu finden, die sich van Wyhe und Rookmaaker zurechtgereimt haben. Ihre Vorstellung, Wallace habe erst Darwins Brief erhalten und seine eigene dringende Postsendung zurückbehalten, weil keine Gelegenheit war, diese rechtzeitig abzuschicken, ist also in mehrfacher Hinsicht ohne Substanz. Die Posttransportzeiten passen nicht; vor allem aber entbehrt die Vorstellung der Fähigkeit, sich in Wallace hineinzuversetzen, der gerade auf eine der größten Erkenntnisse der Biologie gestoßen ist – die Entstehung der Lebewesen mittels natürlicher Auslese.
Es besteht kein Zweifel daran, dass Wallace diese wertvolle Fracht mit seiner revolutionären Idee schnellstens nach England auf den Weg bringt. So sieht er am 9. März 1858 sicher zu, wie der holländische Postdampfer mit seinen Briefen an Darwin und Bates an Bord den Hafen von Ternate verlässt. Die »Ambon« dampft über Makassar auf Celebes nach Batavia auf Java. Auf der »Koningin der Nederlanden« wird die Post am 12. April von dort weiter nach Singapur geschickt, wo sie am 16. April ankommt und von einem aus Hongkong kommenden Schiff der britischen P & O Steamship Company übernommen wird. Mit der für Europa bestimmten Post geht die »Bombay« am 21. April ab. In Suez wird die Fracht der P & O-Postdampfer weiter nach Alexandria befördert – auf dem Landweg, jenen, den auch Wallace selbst vor Jahren in entgegengesetzter Richtung nahm. Und so sehen wir einen der wichtigsten Aufsätze und Briefe der Wissenschaftsgeschichte – jenes Manuskript, das die Welt veränderte – auf dem Rücken eines Packkamels für wenigstens einen ganzen Tag quer durch die ägyptische Wüste schaukeln, um anschließend auf einem Boot den Nil abwärts zu treiben. Von Alexandria aus bringt ein weiterer P & O-Dampfer die Post nach Marseille. Von hier aus
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