Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition)
ebendiese Dokumente, desto leichter haben es jene, die den Verdacht einer Aktenreinigung nahelegen und Fälschungsvorwürfe erheben.
Ohne Frage gibt es zudem eine Reihe auffälliger Ungereimtheiten, angefangen etwa mit jener, dass Wallace’ Brief vom Oktober 1856 aus Celebes im Januar 1857 in Down House eingetroffen sein müsste, Darwin – der seit Monaten geradezu fieberhaft an seinem Arten-Buch schreibt – ihn aber angeblich erst Ende April erhalten hat. Inzwischen haben namhafte und kenntnisreiche Historiker, darunter Lewis McKinney, Barbara Beddall und John Langdon Brooks, ihre Zweifel an der Lehrbuch-Darstellung um die Ereignisse der Veröffentlichung von Wallace’ Aufsatz aus Ternate ausführlich dargelegt. Andere wie der Journalist Arnold Brackmann und der Dokumentarfilmer Roy Davies haben daraus Komplott und Verschwörung gegen Wallace gestrickt. Im Zentrum steht die Frage, ob die Datierung eines wichtigen Briefes, mit dem Darwin seinem Mentor und Freund Charles Lyell gegenüber erstmals von Wallace’ Aufsatz berichtet, tatsächlich korrekt ist. Darwin schreibt »to-day«, was stets so gelesen wurde, als hätte ihn Wallace’ Brief aus Ternate an ebendiesem 18. Juni 1858 erreicht. Doch dann hätte die Postsendung wenigstens zwei, möglicherweise sogar vier Wochen länger gedauert als andere Briefe, die Wallace am 9. März 1858 mit demselben Postdampfer nach England aufgibt.
Doch warum ist das Ankunftsdatum überhaupt so wichtig? Weil Darwin just in dieser Zeit einige durchaus nicht unerhebliche Veränderungen an seinem Arten-Manuskript vornimmt. Es sind wichtige Ergänzungen und wesentliche Zusätze; und sie finden sich in seinen früheren Entwürfen nicht. Was bisher meist übersehen oder wenigstens nicht klar dargelegt wurde, ist eine regelrechte Schrittfolge, die – unsichtbar zwar, aber dennoch auf das Engste – mit Wallace verknüpft ist. So beginnt Darwin erst 1856, also nach dem Erscheinen von Wallace’ Sarawak-Aufsatz und der Warnung von Lyell, dieser könne ihm zuvorkommen, ernsthaft mit der Abfassung seines großen Buch-Manuskriptes. Die Korrespondenz mit Wallace beginnt er 1857, während er am Buchmanuskript weiterarbeitet, nur zögerlich und ohne ihm von seinen Überlegungen zu berichten. Gleichzeitig aber informiert er einen eher randlich Beteiligten (Asa Gray), der nicht zu seinem engsten kollegialen und freundschaftlichen Umfeld gehört (wie Lyell und Hooker), durchaus in einigen Einzelheiten über seine Überlegungen und jüngsten Fortschritte bei seiner Theorie. Im Frühsommer 1858 schließlich, und zwar just Ende Mai und Anfang Juni, als Wallace’ Brief aus Ternate eintrifft, erweitert Darwin sein Buch-Manuskript mit einem Dutzende Seiten umfassenden Einschub, nachweislich auf anderem Papier geschrieben und sicher auf ebendiese Zeit datierbar. Diese Ereignisse im Juni und Juli des Jahres 1858 werden uns gleich noch beschäftigen.
Umstritten ist also, ob Darwin möglicherweise nicht ganz aufrichtig war, was die Ankunft von Wallace’ Aufsatz angeht, ob er von dessen Einsicht in einem entscheidenden Moment profitierte, ohne dies jemals zugegeben zu haben.
Von Postdampferroutenplänen – Jene eine Stunde im Hafen: Bei der Frage, ob und inwiefern sich Darwin Wallace’ Aufsatz tatsächlich zunutze machte, ist die größte Rätselnuss, wann dieser seine Briefsendung aus Ternate abgeschickt und wann Darwin sie erhalten hat. Die Aktenlage dazu ist komplex und in den vielen Details durchaus verwirrend, die bisherigen Antworten mithin widersprüchlich. Wallace selbst ist uns keine wirkliche Hilfe; nicht weil seine Briefe nicht überliefert sind (dafür kann er nichts); vielmehr weil er sich ausgerechnet der Ereignisse auf Gilolo und Ternate im Februar und März 1858 erst wieder erinnert und davon berichtet, nachdem er nach Darwins Tod von der dramatischen Darstellung der Ereignisse aus dessen Autobiographie erfährt.
Kurioserweise steht und fällt das Bild, das wir uns heute von Charles Darwin machen, mit der Frage nach den Laufzeiten von Wallace’ Post aus dem Fernen Osten nach England. Um die Ereignisse des Jahres 1858 zu rekonstruieren, haben Wissenschaftshistoriker minutiös die Routen und Fahrzeiten holländischer und britischer Post- und Frachtschiffe zwischen Ostindien und Europa ermittelt. Insbesondere der amerikanische Historiker John Langdon Brooks und in jüngerer Zeit Roy Davies haben gezeigt, wie eng miteinander verzahnt und mit welch geradezu metronomischer Genauigkeit
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