Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition)
Äste bleiben, die ausgestorbene Gattungen und Familien versinnbildlichen. Es ist just jene Stammbaum-Metapher, die auch Wallace in seinem früheren Aufsatz verwendet hat.
Wallace’ Ternate-Aufsatz wird verlesen: Dann erst folgt der Beitrag von Alfred Russel Wallace mit dem Titel »On the Tendency of Varieties to depart indefinitely from the Original Type«. Für ihn liegt der Schlüssel zur Erklärung des Ursprungs der Arten in der Vielfalt und Vielgestaltigkeit ihrer Formen. Arten und Varietäten sind dabei das Ausgangsmaterial für natürliche Veränderungen. Das Variieren, dieses Abweichen von der Norm oder dem Typus, wie er es nennt, muss sich auf das Überleben der Varietäten auswirken. Auch für Wallace wird der Kampf ums Dasein in der Natur zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Dabei sorgt stets die Umwelt – seien es Klima, Nahrung oder Feinde – für eine Auswahl. Denn wenn sämtliche Individuen überlebten, würde jede Art eine überreiche Nachkommenschaft produzieren, rechnet er vor. Allein aus einem einzigen Vogelpärchen könnten in nur 15 Jahren leicht 10 Millionen Nachkommen entstehen. Doch sofern die äußeren Bedingungen gleich blieben, explodiere auch die Zahl der Nachkommen nicht. Die Natur selbst liefert jene Kontrolle, überlegt Wallace, indem sie stets die schwächsten und am wenigsten perfekt angepassten Lebewesen ausmerzt; so überleben nur die am besten Angepassten und vermehren sich. Zugleich geben sie dabei ihre vorteilhaften Merkmale an die folgenden Generationen weiter, mit dem Ergebnis, dass durch die natürliche Auslese neue Arten entstehen. Über viele Zwischenschritte entsteht so ständig Neues, getrieben wie durch ein einziges Naturgesetz.
Sowohl Wallace als auch Darwin kombinieren in ihrer Theorie also die vielfach beobachtete Veränderlichkeit von Tieren und Pflanzen in der Natur mit den damals gut bekannten Ideen von Thomas Malthus über die Grenzen des Wachstums und folgern daraus, dass nur die am besten Angepassten überleben. Arten sind deshalb nicht konstant, sondern entstehen immer wieder neu, weil sie sich, angetrieben durch die Zuchtwahl in der Natur, verändern und anpassen müssen. Unabhängig voneinander legen beide aber noch eine weitaus wichtigere Erkenntnis nahe: dass in der Natur nicht ein allmächtiger Gott waltet, sondern ein beständiger Kampf ums Dasein und Auslese herrscht.
Dennoch endet das Treffen in London unspektakulär. Die Zuhörer reagieren nicht sonderlich überrascht auf das, was dort vorgetragen wird; niemand stellt eine Frage, keiner eröffnet eine Debatte über die neue Theorie. Die Ausführungen von Darwin und Wallace sind vielleicht nicht einfach zu verstehen, wenn man zum ersten Mal davon hört. Und der Abend wird lang, man ist ermüdet auch von der Fülle an Fakten in den fünf nachfolgenden Vorträgen. Endlich wird Tee serviert, wie es üblich ist bei der Society; Tee beruhigt. Ohne nennenswerte Diskussion über das Gehörte, das eigentlich Unerhörte, gehen die Teilnehmer dieses Gesellschaftstreffens nach Hause. So wird an diesem Abend durch Darwin und Wallace zwar das Fundament einer bis dahin noch immer überwiegend im christlichen Glauben ruhenden wissenschaftlichen Weltsicht erschüttert; doch die Mitglieder der Linnean Society schlafen ruhig.
Später vermerken Historiker einigermaßen verblüfft, dass die öffentliche Reaktion auf diese erste Vorstellung der neuen Theorie äußerst verhalten blieb. Darwins Freund und Vertrauter Joseph Hooker schreibt ihm am folgenden Tag, dass das Thema wohl zu neuartig und zu unheimlich für die alte Schule gewesen sei. Andere dagegen vermuten später, dass wenigstens einige der in wissenschaftlichen Dingen durchaus sehr kenntnisreichen Herren bei der Linnean Society (Frauen sind damals in derartigen Zirkeln nicht erlaubt) sehr wohl die Bedeutung erfasst haben dürften. Doch nicht nur die Unterstützung der neuen Theorien durch Lyell und Hooker wiegt schwer; vor allem die nachweisliche und unangefochtene Kompetenz Darwins als Naturforscher lässt sie das Gehörte der Doppellesung vorerst schweigend aufnehmen.
Auch als die Beiträge von Darwin und Wallace am 20. August 1858 im dritten Band des »Journal of the Proceedings of the Linnean Society« gedruckt erscheinen, erkennen nur wenige die Tragweite der Entdeckung. Unter einem gemeinsamen Titel werden die Auszüge Darwins und die Arbeit von Wallace auf achtzehn Druckseiten zusammengestellt. »On the Tendency of Species to form Varieties; and
Weitere Kostenlose Bücher