Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition)
Andererseits: »Es hätte mir großen Schmerz bereitet und mein Bedauern ausgelöst, hätte Mr Darwins Ausmaß an Großzügigkeit ihn veranlasst, meinen Artikel ohne seine eigenen und viel früheren und ohne Zweifel viel vollständigeren Ansichten zu demselbem Thema zu veröffentlichen.« Und dann setzt Wallace zum Schluss nochmals hinzu: »Ich möchte Ihnen erneut für den angenommenen Kurs danken, der, obwohl gerecht für beide Seiten, so vorteilhaft für mich ist.« Kein Groll, keine Verstimmung; stattdessen Dankbarkeit und Zufriedenheit – und zu Recht auch Stolz.
Noch am gleichen Tag schreibt Wallace auch einen Brief an seine Mutter. »Ich habe Briefe von Mr Darwin und Dr. Hooker bekommen, zwei der herausragendsten Naturforscher in England, die mich hoch erfreut haben. Ich hatte Mr Darwin einen Aufsatz über ein Thema geschickt, worüber er gerade ein großes Werk schreibt. Er zeigte es Dr. Hooker und Sir C. Lyell, die so viel davon hielten, dass sie ihn sofort vor der Linnean Society verlasen. Das macht mir gewiss, dass ich bei meiner Rückkehr nach Hause auf die Vertrautheit und Hilfe dieser großen Männer zählen darf.« Keine Frage: Wallace ist begeistert und zufrieden. Zwar bekommt er nie Gelegenheit, sein Manuskript noch einmal zu überarbeiten, doch offenbar ist das auch nicht nötig. »Mr Wallace’ Abhandlung«, so wird Darwin später schreiben, sei »wundervoll im Ausdruck und vollkommen klar«. Wer indes Wallace’ Andruckfahnen gegengelesen hat, bleibt unklar. Auch später wird Wallace dieser Urfassung nur wenige Ergänzungen in Fußnoten anfügen; aufgrund der historischen Bedeutung lässt er seinen Text weitgehend unverändert. Als Wallace im November 1858 seinen Journal-Beitrag von August erhält, bittet er Stevens in einem Brief, Sonderdrucke der Veröffentlichung seiner und Darwins Theorie an Freunde wie Henry Bates und andere zu senden, die diese Arbeit möglicherweise noch nicht kennen.
Ebenso wie Wallace überrascht ist, dass sein Manuskript so unverzüglich und uneingeschränkt veröffentlicht wird, so überrascht sehen wir Darwin selbst letztlich von dem getroffenen Arrangement. Nach eigenem Bekunden hatte er anfangs erwartet, dass die Auszüge aus seinen eigenen Essays vielleicht nur mehr als Anhang zu Wallace’ Artikel erscheinen. Doch durch das von Hooker und Lyell getroffene Arrangement werden sie dann als Erstes veröffentlicht. Selbst wenn Darwin nicht ganz glücklich ist damit; es ist zu seinem Nutzen. Welchen Schock es bei ihm ausgelöst hat, erfährt die Welt übrigens erst Jahrzehnte später durch Darwins Autobiographie, die drei Jahre nach seinem Tod (im April 1882) erscheint. Wallace liest erst dreißig Jahre später in dem kurz darauf veröffentlichten Briefnachlass Darwins von den Details, wie das delikate Arrangement im Juli 1858 zustande kam. Als Darwins Sohn Francis ihm ein Exemplar der editierten Briefe Darwins zuschickt, findet Wallace darin auch dessen Korrespondenz mit Lyell aus jenen Tagen abgedruckt und erfährt so von dem Kummer, den sein Brief und Manuskript aus Ternate diesem bereitet hat. »Ich hatte ja keine Ahnung, wie ich Ihren Vater erschreckt habe«, schreibt Wallace an Francis Darwin. Und dennoch hat Wallace niemals, in keinem Brief an Darwin, in keiner seiner späteren Arbeiten oder seiner 1905 erscheinenden Autobiographie, Anspruch auf den Weltruhm erhoben, der Darwin und dessen Buch zuteilwird. Mehr noch, nachdem er endlich mit großer Verzögerung erfahren hat, wie alles zustande kam und wie lange Darwin schon seine Theorie ausgearbeitet hat, wird er sein eigenes, erstes Buch zur Evolutionstheorie, das 1889 erscheint, »Darwinismus« nennen – und so einmal mehr hinter Charles Darwin zurücktreten.
Was geschah wirklich? Eine Rätselnuss für Wissenschaftshistoriker: Die Ereignisse im Frühjahr und Sommer des Jahres 1858 gehören zweifelsohne zu den von Wissenschaftshistorikern mittlerweile am gründlichsten untersuchten Episoden der Biologiegeschichte. Dennoch dauert bis heute der Disput darüber an, was wirklich geschah. Sicher ist, dass die erstaunliche Parallelität der Formulierung einer Theorie der natürlichen Auslese weitaus dramatischer verlief und komplizierter ist als bislang meist angenommen. Denn was lange als gentlemen’s agreement zum höheren Nutzen der Wissenschaft galt, was für die einen ein Mordszufall und Zeugnis gegenseitigen Großmutes zweier bedeutender Biologen ist, das wird für andere zum Wissenschaftsmärchen; ja,
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