Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition)
schlimmer noch: für einige sogar zu einem Lügenkomplott. Für den amerikanischen Biologiehistoriker John Langdon Brooks ist es gar die übelste Fälschungsaffäre der gesamten Naturwissenschaften. In seinem Buch »Just before the origin« erhebt Brooks sogar den Vorwurf, Darwin könnte bestimmte Dokumente gefälscht, andere vernichtet haben. Auch hätten Lyell und Hooker die Veröffentlichung bei der Linnean Society manipuliert, um Darwins Urheberanspruch auf die Selektionstheorie zu wahren. In jedem Fall sei Wallace durch deren trickreiches Arrangement um seine Priorität bei einer der bedeutendsten naturwissenschaftlichen Entdeckungen aller Zeiten gebracht worden.
Brooks ist nicht der Erste, der solche Verdächtigungen schürt. Andere Wissenschaftshistoriker wie Lewis McKinney und Barbara Beddall wiesen ebenfalls auf das eigenartige Fehlen wichtiger Dokumente hin, darunter Brief und Originalmanuskript von Wallace an Darwin sowie die Schreiben von Hooker und Lyell an Darwin just aus der turbulenten Zeit vor jenem Juli-Treffen der Linnean Society. Auch seien im letztlich gedruckten Beitrag von Darwin vielfach Änderungen vorgenommen worden, während Wallace keine Gelegenheit hatte, sein an Darwin geschicktes Manuskript zu redigieren. Da Darwin es versäumte, viele seiner Briefe selbst zu datieren, sei dies erst nachträglich – teilweise von seinen Nachfahren – getan worden, die so der Legendenbildung Vorschub geleistet hätten. Dadurch wurde der wahre Einfluss, den Wallace’ Briefe und Artikel von Anfang an auf Darwins Denken hatten, lange zu dessen Gunsten verschleiert. Alles in allem lege dies den Schluss nahe, dass es bei jenem delikaten Arrangement im Sommer 1858 nicht mit rechten Dingen zugegangen sei und dass die nachträgliche, ein Jahrhundert lang dominierende Darstellung der Ereignisse irreführend sei. Sie lasse vor allem Darwin in einem weitaus besseren Licht erscheinen, als er es möglicherweise verdiene.
Dabei geht es nicht nur darum, dass Lyell und Hooker dem kompletten und publikationsfertigen Aufsatz von Wallace die eingestandenermaßen schnell zusammengeschusterten Fragmente aus Darwins unveröffentlichten Papieren voranstellten. Diese waren, wie Darwin explizit schreibt, niemals dazu vorgesehen; sie dienten lediglich dazu, dessen Priorität des Gedankens zu demonstrieren. Nach heutigem Standard – wonach die erste Publikation zählt und nicht die Tatsache, als Erster (oder gar besonders lange) an etwas gearbeitet zu haben – ist diese heikle Übereinkunft eine in der Tat mehr als zweifelhafte Aktion. Und Darwins eigene Korrespondenz straft ihn Lügen, wenn er sieben Monate nach der gemeinsamen Präsentation an Wallace schreibt: »Ich hatte nicht das Geringste, absolut nichts, damit zu tun, Lyell und Hooker zu dem zu veranlassen, was sie als faire Vorgehensweise ansahen.« Fair oder gar nobel jedenfalls war der von Darwins Freunden arrangierte Kompromiss, dem Aufsatz von Wallace Darwins Notizen voranzustellen, keinesfalls. Vor der Linnean Society gab es durchaus keine »salomonische Schlichtung«, wie noch so eine Legende um Darwin nahelegt. Vielmehr rettet das Arrangement Darwins Urheberschaft und bringt Wallace um die alleinige Rolle und die Erstveröffentlichung der Theorie einer Transmutation als natürlichem Prozess.
Allerdings kann sich später wohl keiner der drei Akteure mehr genau entsinnen, wie es eigentlich zu jenem Arrangement kam. So erinnert sich Lyell (der ja auf Darwins ersten Brief nicht reagiert hatte) später daran, dass Hooker ihm Wallace’ Manuskript brachte, der vorschlug, daraus eine Art gemeinsame Veröffentlichung zu machen. Hooker wiederum (an den Darwin dann ebenfalls schreibt) erinnert sich später, dass Darwin ihm zuerst von Wallace’ Brief berichtete und dass er ihm gegenüber diese gemeinsame Veröffentlichung vorschlug.
Wie auch immer; wichtiger ist: Das Bild, das wir uns fortan von Charles Darwin machen, steht und fällt mit den Laufzeiten der Post aus dem Fernen Osten nach England. Und weil er die Ereignisse im Sommer 1858 rekonstruieren wollte, hat vor allem John Langdon Brooks minutiös in diversen Archiven rund um den Globus recherchiert und sogar die Routen und Fahrzeiten holländischer und britischer Post- und Frachtschiffe zwischen Ostindien und Europa ermittelt. Dabei meinte er dann jene Ungereimtheiten und Lücke in der gängigen Legende von der gemeinsamen Entdeckung der Evolutionstheorie ausgemacht zu haben. Zum Schlüsselereignis wurde für
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