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Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition)

Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition)

Titel: Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Glaubrecht
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Evolutionsgedanken verbinden.
    Endlich meint Darwin, jenes lange fehlende Prinzip gefunden zu haben, mit dem sich die Vielfalt und Fülle der Arten auf der Erde erklären lässt. In seiner Autobiographie schreibt er später, dass er sich noch genau der Stelle auf der Straße erinnere, die er mit der Kutsche befuhr, als ihm die Lösung des Problems einfiel. Unbestritten ist dieser Gedanke der divergierenden Varianten eine der wichtigsten Ergänzungen gegenüber seinen früheren Entwürfen. »Ich bin wie Krösus, überwältigt von meinem eigenen Reichtum an Befunden«, schreibt Darwin in einem Brief.
    Darwins Ergänzung der Theorie: Anfangs beschränken sich die Ausführungen zur Divergenz in Darwins immer dicker werdendem Arten-Buch auf eine einzige Manuskriptseite (Seite 27). Doch zu einer kritischen Zeit und an dieser kritischen Stelle ergänzt Darwin dann seine Darstellung der Theorie um jenen zentralen Aspekt, indem er mit einem Einschub von weiteren 41 Seiten die alte Seite 27 ersetzt. Keine Frage: Zwar hat Darwin das Evolutionsprinzip im Kern lange vor Wallace entdeckt und Anfang der 1840er-Jahre handschriftlich in Aufsätzen skizziert. Doch könnte er, angeregt durch Wallace’ klare Darstellung in dessen Ternate-Aufsatz, bestimmte Details anschließend noch besser herausgearbeitet haben. Und erst nachdem Darwin dann im Juni 1858 sein eigenes Buchmanuskript ergänzt hat, könnte er Hilfe suchend an Lyell geschrieben haben.
    Jedenfalls verkündet er genau zu jener Zeit, als nach Überzeugung vieler Historiker das Manuskript von Wallace bereits in Darwins Händen ist, in einem Brief vom 8. Juni 1858 an seinen engen Freund und Vertrauten Joseph Hooker, nun endlich habe er das Problem gelöst, wie Arten entstehen. Jetzt, so Darwin, sei er zuversichtlich, dass jenes neue Prinzip sicher begründet ist. Dieser Aspekt der Divergenz, so fügt Darwin noch hinzu, stelle zusammen mit dem Mechanismus der natürlichen Auslese den Grundpfeiler seines Buches dar. Und in diesem Punkt, so zeigt das oben stehende Zitat aus Wallace’ Aufsatz, ist Darwin sich mit diesem vollständig einig.
    Woher aber wissen wir, dass der Einschub aus dieser Zeit stammt? John Langdon Brooks hat durch akribischen Vergleich nicht nur belegt, dass Darwin tatsächlich jene insgesamt 41 Seiten nachträglich in das Manuskript seines 1856 begonnenen Buches »Natural Selection« einfügt. Auf andersfarbigem Papier geschrieben, ist dieser Zusatz eindeutig in Darwins Originalmanuskript nachweisbar, das in der Bibliothek der Universität Cambridge erhalten ist. Brooks’ These ist, dass Darwin diesen ausführlichen Zusatz erst nach der Lektüre von Wallace’ Ternate-Manuskript geschrieben hat. Dazu führt er zwei Beweisketten an: Neben jener von ihm postulierten deutlich früheren Ankunft von Wallace’ Brief sind dies vor allem viele Übereinstimmungen in den Texten von Wallace und Darwin bis hin zur auffällig ähnlichen Wortwahl. Das Fazit des Historikers: Darwin könnte von Wallace’ Theorie und seinen Erläuterungen zum Divergenzprinzip in den ersten Junitagen 1858 zwei Wochen früher Kenntnis gehabt haben als erst an jenem vermeintlichen 18. Juni.
    Darwin hätte genug Zeit gehabt, um wichtige Ergänzungen im Entwurf seiner eigenen Evolutionstheorie vorzunehmen. Denn bis dahin – so sind sich viele Historiker inzwischen einig, selbst wenn sie Brooks’ Ansicht ansonsten nicht teilen – hat sich Darwin vergeblich mit jenem Kernprinzip der Divergenz der Merkmale herumgequält. Erst durch die Merkmalsdivergenz lässt sich erklären, dass eine natürliche Auslese stets die am stärksten spezialisierten (also voneinander abweichenden oder divergierenden) Varietäten überleben lässt, weil sie am wenigsten mit anderen konkurrieren. Im Gegensatz dazu sterben die weniger spezialisierten Mittelformen aus, wenn sich die Umwelt drastisch verändert. Auf diese Weise entstehen neue, voneinander getrennte Arten.
    Erst nachdem Darwin die Details des Divergenzprinzips aus Wallace’ Manuskript gleichsam herausgepickt hat, um sie in seine eigene Theorie einzubauen, erst danach habe er sich an Lyell und Hooker mit der Bitte um Rat und Tat gewandt, so meint John Langdon Brooks. Demnach wäre Darwin also nicht bloß am 18. Juni 1858 für Stunden zwischen Verzweiflung und Verblüffung, zwischen wissenschaftlichem Ehrgefühl und Prioritätsanspruch hin- und hergerissen gewesen. Hatte er vielmehr Tage und Wochen Zeit, sich zu fangen und sich zu fragen, was er tun sollte?

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