Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition)
Verzögerung bei den ansonsten so präzise arbeitenden Postverbindungen, die just in dieser Zeit zwischen Batavia und Singapur einmal kurz aus dem Takt geraten war.
Das Prinzip der Divergenz: Warum aber ist die genaue Ankunftszeit so wichtig? Wissenschaftshistoriker haben inzwischen erkannt, dass in Darwins Theorie der natürlichen Auslese ein weiterer Faktor eine wichtige Rolle spielt. Es ist das bereits erwähnte letzte Puzzleteilchen zum Bild: das sogenannte »Prinzip der Divergenz«. Dieses Prinzip ist auch Wallace wichtig, weshalb er es in seinem Ternate-Aufsatz in prägnanten Worten erläutert. »Die meisten oder vielleicht alle Abweichungen von der typischen Form einer Art müssen irgendeine endgültige, wenn auch noch so leichte Wirkung auf die Gewohnheiten oder Fähigkeiten der Individuen haben.« Und weiter. »Es ist ebenso einleuchtend, dass die meisten Veränderungen, sowohl günstige als auch ungünstige, die Fähigkeit, das Leben zu verlängern, beeinflussen.« Was Wallace schließlich zwei Seiten weiter zu dem Schluss bringt: »Hier also haben wir Fortschritt und beständige Divergenz aus den allgemeinen Gesetzen, welche die Existenz der Tiere in natürlichem Zustande regulieren, und von der unbestrittenen Tatsache, dass Varietäten häufig vorkommen, abgeleitet.«
Von Darwin wissen wir, dass er die Darstellung dieses Prinzips nachweislich ausgerechnet in jener kritischen Zeit um Anfang Juni 1858 herum (also just, als der brisante Aufsatz von Wallace England erreicht) im Manuskript zu seinem Artenbuch in ausführlicher Form einarbeitet. Später findet sich das entsprechende Kapitel unverändert auch in Darwins Buch zur »Entstehung der Arten«. Dagegen fehlt eine Darlegung dieser Idee, die letztlich nicht nur ökologische Vielfalt, sondern auch die Entstehung neuer Arten erklärt, noch in Darwins früheren Theorie-Entwürfen aus den 1840er-Jahren. Wie der Wissenschaftshistoriker Dov Ospovat in mühevollem Quellenstudium herausgefunden hat, wandelt sich Darwins Verständnis von Divergieren und Anpassen in der Natur, und zwar just in jenen Jahren, in denen auch Wallace für ihn eine Rolle zu spielen beginnt.
Zugegeben: Diese Veränderungen im Verständnis dessen, was mit Divergenz gemeint ist, betreffen Feinheiten. Aber sie haben es in sich, wenn man der Evolution auf die Schliche kommen will. Denn das Divergenzprinzip ist ein zentraler Gedanke der modernen Evolutionstheorie. Darwin und ebenso Wallace haben erkannt, dass die Auswahl durch die Natur jeweils an den unterschiedlichen Merkmalen und Eigenschaften der Lebewesen ansetzt. Glaubt Darwin bis Anfang der 1850er-Jahre noch, dass sich Lebewesen stets vollständig, ja geradezu perfekt an die jeweils herrschenden Umweltbedingungen anpassen, so erkennt er zwischen 1854 und 1857 den wahren Charakter der natürlichen Anpassung, die eben gerade nicht perfekt ist und auch nicht sein kann und darf. Denn die Auslese in der Natur führt nicht zu jener absoluten Perfektion, wie etwa die Naturtheologen um William Paley vor Darwin annahmen (und die ewiggestrigen Kreationisten heute noch immer vergeblich behaupten). Vielmehr gibt es in der Natur stets eine gewisse Schwankungsbreite, jene natürliche Variation, die der Transmutation gleichsam als Spielmaterial dient. Diese Idee einer nicht perfekten, sondern relativen Adaptation ist eine Erkenntnis Darwins, die sich in seinen Essays aus den 1840er-Jahren noch nicht findet.
Nachweislich berichtet Darwin erstmals dem Botaniker Asa Gray im September 1857 in einem Brief davon. Dieser Brief ist zugleich auch das erste schriftliche Zeugnis von Darwins Vorstellung der Divergenz. Darin legt er dar, dass Arten so etwas wie ein Reservoir an Varianten darstellen, aus dem sich die Natur bedient. Während die geschlechtliche Fortpflanzung die natürliche Variation erzeugt, eliminiert der Kampf ums Dasein den größten Teil der Nachkommen wieder; einzig die jeweils am besten angepassten Varianten überleben, werden also auf natürliche Weise ausgelesen. »In der Natur züchten sich Arten gleichsam selbst«, meint Darwin. Die natürliche Selektion treibt im Laufe der Zeit gewissermaßen Keile zwischen die überlebenden Varianten, bringt sie dadurch immer weiter auseinander, bis daraus neue Arten entstanden sind. Jede der auf diese Weise hervorgebrachten Varianten würde eine sich ihnen bietende passende Nische im Naturgefüge ausbilden; das Ergebnis wäre jener weit gefächerte Baum des Lebens, den wir heute mit dem
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