Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition)
Der Mensch sei nicht Gottes Geschöpf oder Abkömmling mysteriöser »höherer Existenzen« (wie Wallace annimmt); vielmehr habe sich die Menschheit auf natürliche Weise aus affenähnlichen Wesen entwickelt, wobei unsere Evolution einschließlich unseres Geistes denselben Mechanismen wie die anderer Organismen folge. Darwin verkleinert die angeblich unüberbrückbare Kluft zwischen Mensch und Tier und sieht auch unsere geistigen Fähigkeiten in der Tierwelt angelegt, indem er auf die stammesgeschichtlichen Wurzeln spezifischer menschlicher Eigenschaften verweist. Selbst so etwas Komplexes wie unsere Sprache sei nicht vollständig ausgeformt und plötzlich entstanden; vielmehr sei sie durch viele Stadien gegangen. »Nur unser natürliches Vorurteil und jene Überheblichkeit, welche frühere Generationen dazu bewog, zu behaupten, sie stammten von Halbgöttern ab, hindert uns daran, diesen Schluss zu ziehen.« Nicht Erkenntnisse und Tatsachen führen zur irrigen Ansicht von der vermeintlichen Krone der Schöpfung, der letztlich auch Wallace anhängt, sondern jene sapiens -typische Setzung seiner Sonderstellung.
An dieser Stelle kreuzt Wallace mit Darwin im offenen Disput erstmals die Degen. Und Wallace bleibt auch später bei seiner Ansicht. »So finden wir denn, dass der Darwinismus, selbst wenn er bis zu seinen letzten logischen Folgerungen fortgeführt wird, dem Glauben an eine spirituelle Seite der Natur des Menschen nicht nur nicht widerstreitet, sondern ihm vielmehr eine entscheidende Stütze bietet«, wird er später schreiben. Nur gut, dass Darwin da schon tot ist. Die neue Theorie Darwins sei es ja gerade, die zeige, »wie der menschliche Körper sich aus niederen Formen nach dem Gesetze der natürlichen Zuchtwahl entwickelt haben kann; aber er lehrt uns auch, dass wir intellektuelle und moralische Anlagen besitzen, welche auf solchem Wege sich nicht hätten entwickeln können, sondern einen anderen Ursprung gehabt haben müssen – und für diesen Ursprung können wir eine ausreichende Ursache nur in der unsichtbaren geistigen Welt finden«.
Wallace auf der Suche nach dem X-Faktor: Nicht nur die Biographen von Wallace, sondern alle, die sich mit der Entwicklung des Evolutionsdenkens und der Frage nach der Abstammung des Menschen ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschäftigen, stehen hier vor einem nicht eben kleinen Rätsel. Es hat zu vielen Missverständnissen um Wallace’ Standpunkt und seine Gründe geführt. Wir müssen uns dies daher etwas genauer ansehen und kommen so auch zu jener nicht weniger schwierigen Frage, woran Wallace nun eigentlich glaubt. Ist er religiös? Ist seine, wie wir gleich sehen werden, spiritualistische Grundüberzeugung vielleicht so etwas wie Religionsersatz oder Ersatzreligion? Wir müssen also untersuchen, was es mit diesem Spiritualismus auf sich hat, bevor wir die Frage beantworten können, was ihn ab 1869 zu der Ansicht bringt, dass der Mensch etwas Besonderes sei und wenigstens dessen Gehirn und Denken nicht natürlichen Gesetzmäßigkeiten wie dem Wirken von natürlicher Auslese und Anpassung unterlägen. Es ist ein zentrales Thema bis heute, und indem wir Wallace’ Ideen nachgehen, erfahren wir mehr über eine der Grundfragen des Evolutionsgedankens, aber auch, warum ausgerechnet dieser Gedanke es so schwer hat in den Köpfen der Menschen.
Etwa ab dem Jahr 1863, also mit seinem vierzigsten Lebensjahr, erhalten die großen religiösen und sozialen Fragen bei Wallace eine stetig wachsende Bedeutung. Das Denken des reiferen Mannes wandelt sich zwar nicht grundlegend, aber neben den unmittelbaren Fragen zur Naturkunde bekommen auch frühere und zwischenzeitlich verschüttete Aspekte in seinem Denken wieder mehr Bedeutung. Wie wir noch sehen werden, ist dabei das eine die Ungleichheit und Ungerechtigkeit gerade in der britischen Gesellschaft, die ihm wie einst dem jungen Mann in Wales jetzt auch in London wieder vor Augen geführt wird. Das andere sind ebenjene Fragen der Abstammung und der Sonderstellung der Menschheit. Um es vorwegzuschicken, weil dies eines der grundlegenden Missverständnisse um Wallace ist: Er ist niemals wirklich religiös im eigentlichen Sinn; er findet nie, wie man in einschlägigen Kreisen sagt, zu Gott. Stattdessen ist er im Grunde eher agnostisch als atheistisch (sofern diese Begriffsschubladen auf jemanden wie ihn überhaupt zutreffen), glaubt dabei weder an einen Gott der Christenheit noch an den Gott oder die Götter einer anderen
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