Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition)
ein langes Tau gekrallt retten. Er fällt mit versengten Federn ins Meer und wird, reichlich zerzaust, aber lebend, von Wallace mit dem Boot aus dem Wasser gefischt.
Die »Helen« brennt die ganze Nacht über bis auf die Wasserlinie nieder; dunkler Rauch umhüllt das Wrack, in dessen Rumpf der Feuerschein die unwirkliche Szene lange erleuchtet. Es ist der Morgen des 7. August 1852, als das Schiff sinkt – mitten im Ozean. Irgendwo hinter dem Horizont in weiter Ferne liegen die Bermudas, mehr als tausend Kilometer westlich von ihnen das einzige Land überhaupt. Wallace liegt wie gelähmt in dem offenen Boot, vorläufig gerettet, zusammen mit der Besatzung und Kapitän Turner. In den Dollen knarren die Riemen, als die Männer zu rudern beginnen.
Die Sammlung: Wallace’ Expedition in Südamerika ist ein Triumph an Hartnäckigkeit, Willensstärke und auch Vision. Doch sie endet im Desaster, das ihn seine Sammlung und beinahe auch sein Leben kostet. Im Laderaum der »Helen« versinkt vor den Bermudas ein biologischer Schatz – die Früchte vieler Monate harter Arbeit. Mit dem Schiff geht erst in Rauch auf und dann unter, was Wallace in den letzten beiden Jahren seiner Amazonas-Reise mühevoll zusammengetragen hat – eine der größten wissenschaftlichen Sammlungen seiner Zeit, zahllose unbekannte Tier- und Pflanzenarten aus entlegenen Regionen des Regenwaldes samt seinen Aufzeichnungen. Ein von Balsamöl und einem unbedachten Kapitän befeuerter Moment vernichtet Jahre seines Lebens – und Tausende von Insekten, Schmetterlingen und Spinnen, Käfer und Knochen, Hunderte Vogelbälge und Felle, Schlangenhäute und Schädel, Muscheln und Schnecken. Eine höchst erstaunliche und in vielen Fällen bis dahin unbeschriebene Vielfalt der Fauna und Flora Amazoniens. Schätze, für die er sein Leben aufs Spiel gesetzt hat – und von denen seine Zukunft abhängt. Vom Erlös dieses einmaligen Naturalienschatzes hätte Wallace für lange Zeit auskömmlich leben können. Jetzt ist nahezu alles verloren. Und längst sind die Männer in den offenen Beibooten nicht gerettet.
Tage und Nächte treiben sie hilflos auf dem offenen Ozean. Ihre überladenen Nussschalen sind undicht, das Holz der Planken verwittert, von der Tropensonne rissig; es leckt und unaufhörlich müssen die Männer Wasser mit Eimern ausschöpfen, das dennoch alles im Boot durchweicht. Apathisch realisiert Wallace, dass er sich in der Eile in Pará auf ein wenig vertrauenerweckendes Schiff eines nicht sehr fähigen Kapitäns begeben hat. Die Sonne brennt von einem gnadenlos unbedeckten Himmel. Bald sind Wallace’ Gesicht und Hände ebenso wie bei den anderen Männern mit Blasen bedeckt, Nase, Ohren und seine Hände werden regelrecht enthäutet. Sie leben von kleinen Rationen aus Schinken, Zwieback und Wasser. Die Boote haben ihre Behelfssegel gesetzt, und ein günstiger Wind lässt sie Kurs auf die Bermudas nehmen. Doch der Wind dreht nach zwei Tagen, sie steuern nach Norden. Das Wasser wird knapp; bald werden sie auch nicht mehr genug Nahrung haben. Wallace beobachtet Delphine, die das Boot umkreisen. Er bewundert den metallisch-blaugrünen Glanz ihrer Körper, wenn sie die Meeresoberfläche durchstoßen. »Wir sahen auch einen Schwarm kleiner Vögel vorbeifliegen, die zirpende Laute von sich gaben; die Matrosen wussten nicht, was für Vögel das waren«, erinnert er sich später. Während die Männer die Tiere im und auf dem Meer in erster Linie als potenzielle Nahrung betrachten, kann Wallace den Naturforscher in sich auch jetzt nicht verleugnen. »Nachts sah ich«, notiert er später, »etliche Meteorite, und so, wie ich mitten im Atlantik in einem kleinen Boot auf dem Rücken lag, war ich wirklich in der denkbar besten Position für ihre Beobachtung.« Britisches Understatement oder die Wissenschaftsprosa eines Überlebenskünstlers, der sich bis dahin bereits vielen tödlichen Gefahren gegenübergesehen hat? Einer freilich, der gleichwohl die jetzt vor ihnen liegenden Gefahren kennt. Meist ist ihnen das Wetter gewogen und sonnig. Aber selbst bei wenig Wind und Wellengang schwappt mit der leichten Dünung ständig Wasser in die von Seite zu Seite rollenden Boote. Einen in diesen Breiten und zu dieser Zeit keineswegs unüblichen Hurrikan mit hohem Wellengang und Brechern mag sich Wallace gar nicht erst vorstellen.
Am Nachmittag des 15. August 1852 machen sie in der Ferne ein Segel aus und werden von dem vorüberkommenden Schiff, wie zuvor die »Helen« auf
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