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Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition)

Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition)

Titel: Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Glaubrecht
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stärker, einer der schlimmsten, den es dort je gegeben hat und dem manches Schiff zum Opfer fällt. Auch die »Jordeson« wird zwei Tage umhergewirbelt, lässt die Männer an Bord durchnässt die Nacht durchwachen. Selbst Kapitän Turner wünscht sich, während die Brecher über das Deck schlagen, sie wären in ihren Rettungsbooten statt auf diesem verrotteten Seelenverkäufer. Wieder steht das Wasser mehr als einen Meter hoch in Kajüten und Laderaum, doch wieder geht das Schiff nicht unter. Nach achtzig Tagen auf See, weit mehr als doppelt so lange, wie die Passage von Pará üblicherweise dauert, erreichen sie die englische Kanalküste.
    Londoner Zwischenspiel: Am 1. Oktober 1852 geht Alfred Russel Wallace im kleinen Fischerort namens Deal, knapp nördlich von Dover, an Land; dankbar, den Gefahren entkommen zu sein, und froh, nach mehr als vier Jahren endlich wieder englischen Boden zu betreten. »Oh, welch glorreicher Tag«, jubelt er. Im Inn des Ortes nimmt er als Erstes ein heißes Bad, diniert dann mit den beiden Kapitänen; es gibt Beefsteak und Pflaumentörtchen. Nicht schlecht für einen Schiffbrüchigen. Aber doch nicht gerade die Art und Weise einer Rückkehr, wie Wallace sie sich noch am oberen Rio Uaupés ausgemalt hat. Drei Tage später ist er in London – mit kaum mehr als den Kleidern, die er am Körper trägt: einem zerschlissenen Tropenanzug, und mit kaum etwas von dem in den Händen, weshalb er an den Amazonas aufgebrochen war. Der Naturalienhändler und Agent Samuel Stevens nimmt Wallace in Empfang, schleppt ihn zum Schneider und lässt ihn anschließend von Frau Stevens senior in ihrem Haus eine Woche lang bei besten Mahlzeiten regelrecht aufpäppeln.
    Stevens erweist sich als ein überaus umsichtiger Agent – und als seine Rettung. Zwar ist es nur ein geringer Trost, aber immerhin hat er Wallace’ Naturaliensammlung vom Amazonas vorsichtshalber versichern lassen. Zusammen mit dem Erlös für jenes Material, das Wallace zuvor unbeschadet nach England schicken konnte, bekommt er so knapp 200 Pfund; erwartet hatte er aus dem Verkauf der Sammlung schätzungsweise 500 Pfund. Immerhin: selbst in seinen besten Zeiten in Wales hatte er weit weniger. Vor allem muss er sich nicht darum sorgen, erneut als Landvermesser oder Lehrer Arbeit zu suchen; er kann stattdessen in den kommenden Monaten recht komfortabel in London leben.
    Schwer wiegt nun der Verlust seiner Aufzeichnungen. Was wollte Wallace nicht alles in eigenen Abhandlungen dem interessierten britischen Fachpublikum darlegen: In den Fußstapfen eines Humboldts, Natterers, Spix und Schomburghs unterwegs, so seine Pläne dort oben am Rio Negro, wollte er zuerst einen ausführlichen Reisebericht verfassen, das Tagebuch seiner Wanderungen und Erkundungen fremder Welten. Anschließend wollte er den Fischen des Amazonas eine eigene Abhandlung widmen, für die er Zeichnungen und Notizen von vielleicht hundertfünfzig verschiedenen Arten angefertigt hatte. Eine dritte Arbeit sollte die Palmen behandeln, für die er gleichfalls das Material zusammentrug. Schließlich wollte er ein großes Werk zur gesamten Naturkunde verfassen – von der Geographie und Geologie bis zur Flora und Fauna Amazoniens einschließlich einer Anthropologie der dort ansässigen Naturvölker. Es würde die »physikalische Geschichte des Großen Amazonenstromes« werden, so schwebte es ihm als Titel vor. Darin würde er sich vor allem dem Vorkommen und der Verbreitung der Tiere und Pflanzen widmen, denn dass solch einer biologischen Geographie eine entscheidende Rolle zukommt, dessen ist sich Wallace mittlerweile sicher.
    Große Pläne, von denen sich nun freilich weniger realisieren ließ; jetzt, da ihm das Material fehlt, allen voran die eigentliche Sammlung an Naturalien. Andererseits stellt ihn der Verlust auch in gewisser Weise frei; allein die Bearbeitung seiner Schmetterlinge vom Amazonas hätte ihn gut und gerne zwei oder gar drei Jahre beschäftigt. Die Zeit würde er nun sparen, sinniert Wallace mit einer Brise bitterer Ironie. Aber er sollte nach vorn blicken, nicht zurück, nimmt er sich vor. »Verlorenem nachzutrauern war, wie ich wusste, unnütz, und so versuchte ich, so wenig wie möglich an das zu denken, was hätte sein können, und mich mit den tatsächlichen Gegebenheiten zu befassen.«
    Im Schlepptau von Samuel Stevens besucht Wallace bereits am 4. Oktober 1852 – er kann nach dem wochenlangen Schaukeln auf See noch immer nicht recht stehen – zum ersten

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