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Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition)

Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition)

Titel: Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Glaubrecht
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so schlimm, dass weder er noch seine indianischen Helfer erwarten, dass er die Nacht überlebt.
    Wallace erreicht den Zusammenfluss des Rio Uaupés mit dem Rio Negro, wo er sich in Sao Joaquim drei Monate Ruhe gönnt. Dann bricht er erneut auf. Um die zahllosen Stromschnellen entlang des Flusses zu passieren, müssen seine indianischen Helfer oft genug das Kanu und seine gesamte Ausrüstung über Felsen am Rande der reißenden Strömung tragen; einmal benötigen sie die Verstärkung von 25 Einwohnern eines nahe gelegenen Dorfes, die mit Seilen und Stricken aus Pflanzenfasern das Kanu über blanke Felsen ziehen, bevor die Fahrt weitergehen kann. Der Fluss wird flacher und Wallace muss fünf Tage warten, bis ein kleineres Kanu gebaut ist, mit dem er noch weiter hinaufrudern kann. Ungeachtet seines geschwächten Zustandes kartiert Wallace weiterhin mit großer Akribie den Fluss und seine nicht enden wollende Abfolge von Katarakten, die bei den Indianern so anschauliche Namen haben wie etwa »anacas« (Ananas), »maniwara« (weiße Ameise) oder »tapiracunga« (Tapirkopf). Mehr als fünfzig davon wird er hinter sich bringen und in der Karte vermerken. Vögel und Insekten sind oft nur schwer zu erlangen. Doch von den Fischen, darunter vielen, die noch kein Forscher vor ihm je sah, fertigt Wallace weiter sorgfältige Zeichnungen an; einige Fische bewahrt er zudem in Alkohol auf und nimmt sie mit. Schließlich erreicht er Mitte März 1852 Mucura (heute Maura) im kolumbianischen Teil des Oberlaufs dieses Flusses – und damit den am weitesten im Hinterland Amazoniens gelegenen Punkt seiner gesamten Expedition. Vierzehn Tage verweilt er in dieser Region, die kein europäischer Forscher je vor ihm sah; wahrlich ein Highlight der Erkundung der noch unbekannten Flecken unserer Erde. Aber Wallace ist auch am Ende all seiner Kräfte.
    Den sagenhaften weißen Schirmvogel und jene besonders gezeichnete Wasserschildkröte sucht er am Rio Uaupés letztlich vergeblich. Am Ende ist Wallace deshalb »geneigt, diesen für eine bloße weiße Varietät zu halten, wie ab und an bei unseren Schwarzdrosseln und Staren zu Hause vorkommen«, schreibt er einigermaßen frustriert. Kein Wunder angesichts all des Aufwands und der Strapazen, die Wallace auf sich genommen hat für eine solch seltene Laune der Natur. Doch das Fazit ist nützlich, hält es doch eine wichtige Erkenntnis bereit. Allzu leicht übersehen Wallace’ Zeitgenossen solche Aberrationen und die Abweichungen, die sich bei beinahe jedem Tier finden. Tatsächlich aber sind bei keiner Art sämtliche Einzelexemplare nur mehr Kopien eines Idealtypus, wie man bis dahin vielfach glaubt. Vielmehr sind Arten Ansammlungen zahlloser kleiner Abänderungen und individueller Varianten, wie Darwin zu diesem Zeitpunkt bereits wusste und Wallace jetzt zu erkennen lernt. Solch minimalen Abweichungen, die das natürlichste bei biologischen Arten sind, weisen beiden schließlich den Weg zur Evolutionstheorie.
    Endlich, nach vier Jahren und mit reicher Ausbeute, tritt Wallace im April 1852 vom Rio Uaupés aus den Rückweg an. Zusätzlich zu seiner Sammlung getrockneter, genadelter und konservierter Tiere und Pflanzen, verstaut in zwanzig Kisten und Paketen, bringt er diesmal auch eine exotische Menagerie lebender Tiere den Fluss mit hinunter, vor allem viele Vögel und Affen. Die Zahl der Tiere in diesem Zoo indes schwankt und Wallace hat erhebliche Schwierigkeiten, sie alle am Leben zu halten. Als er Sao Joaquim verlässt, sind es 52 gefiederte und pelztragende Tiere; doch einige entkommen, einer der Affen verspeist zwei seiner Vögel. Unterwegs kauft Wallace zwar weitere lebende Tiere dazu, vor allem Papageien und Sittiche; aber beinahe jeden Tag verliert er eines wieder. Bei der Durchfahrt durch eine Stromschnelle geht einer seiner schönsten und wertvollsten Papageien verloren, von dem er nur dieses eine Exemplar besitzt. Als er Barra verlässt, sind es nur noch 34 Tiere – darunter fünf Affen, zwei Aras, zwanzig weitere Papageien, einige Kleinvögel, ein Fasan mit weißer Haube und sein Favorit – ein ausgewachsener, handzahmer Tukan. Der geht schließlich, am Unterlauf des Amazonas angekommen, des Nachts über Bord und ertrinkt in den Fluten des Flusses – ein schlechtes Omen.
    In Barra findet Wallace sechs große Kisten vor, angefüllt mit der Ausbeute seiner früheren Sammeltouren am Rio Negro. Er hatte sie bereits im vorangegangenen Jahr auf die Reise nach England zu seinem Agenten

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