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Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition)

Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition)

Titel: Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Glaubrecht
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dem Weg nach London, entdeckt und gegen Abend glücklich aufgefischt. Da sind sie immer noch über 300 Kilometer von den Bermudas entfernt, die sie vielleicht nie erreicht hätten. Ihre Rettung verdanken sie der »Jordeson«, einem zweimastigen englischen Kauffahrer, von Kuba kommend auf dem Weg nach Hause. Als Wallace an Bord der »Jordeson« in Sicherheit ist, wird ihm erst richtig klar, was er verloren hat. »Was ich zuvor zurückgeschickt hatte, reicht gerade, meine Kosten zu decken.« Weil Wallace’ Sammungskisten vom Zoll in Barra aufgehalten wurden, ist das gesamte Material der beiden vergangenen Jahre an Bord der »Helen« gekommen. Als ob das nicht schlimm genug wäre, hat er zudem seine gesamte eigene Dublettensammlung vom Amazonas dabei, jene besonderen Stücke, die er nicht verkaufen, sondern für sich selbst von allen Arten und Formen behalten wollte. »Meine ganze Privatsammlung an Insekten und Vögel war an Bord; sie umfasste Hunderte neuer und wunderschöner Formen, die mein Museumskabinett (wie ich kühn hoffte) zu einem der reichsten machen würden, was amerikanische Arten betraf«, schreibt Wallace an einen Freund. »Noch dazu hatte ich ein Gutteil meiner Aufzeichnungen eingebüßt, darunter auch die überaus interessanten Tagebücher dreier Jahre am Amazonas, was schwerer wiegt als der nur finanzielle Verlust, da sie unersetzbar sind.«
    Diese Schätze, die mit dem Wrack der »Helen« in den Fluten versanken, gehen Wallace begreiflicherweise lange nicht aus dem Kopf. »Nun, da die Gefahr vorüber schien, begann ich die Größe meines Verlustes erst voll zu empfinden. Mit wieviel Vergnügen hatte ich jedes seltene und merkwürdige Insekt betrachtet, das ich meiner Sammlung hinzufügen konnte!«, schreibt er am Ende seines Reiseberichts. Wie viele Male hatte er sich fieberkrank durch den Urwald gekämpft, um neue, unbekannte Arten aufzuspüren? All die aufreibenden Tage, Wochen, Monate und Jahre, all die hochfliegenden Hoffnungen und kühnen Träume, möglichst viele der noch unbeschriebenen Arten nach Hause zu bringen. »Jetzt war alles verloren, und mir war kein einziges Exemplar geblieben aus jenen noch unbekannten Regionen, die ich durchquert hatte, oder als Erinnerung an die wildromantische Szenerie, die ich zu Gesicht bekommen hatte!« Jetzt sind die Tiere, die er am Amazonas erbeutet hat, einen zweifachen Tod gestorben, grübelt er noch immer mitten im Ozean. Bisher hatte seine Jagd stets einen Sinn. Denn jeder Schmetterling, jedes andere Insekt, das er fing, jeder Vogel, den er schoss, starb für eine naturkundliche Erkenntnis, gesammelt im Dienste der Wissenschaft. War ihr Tod jetzt, da sie verbrannt und versunken sind, nicht sinnlos geworden?
    Wallace’ Abenteuer auf dem Atlantik ist indes noch nicht vorbei. Die »Jordeson« ist nicht nur alt, schwerfällig und langsam; sie ist vor allem kaum noch seetüchtig und leck. Mit den zusätzlichen Männern an Bord wird auch der Proviant schnell knapp. Erst gehen Käse und Schinken aus, dann Erbsen, Butter und gepökeltes Schweinefleisch; schließlich bleiben ihnen nur Zwieback und Wasser. »Es ist schlimmer als selbst an den übelsten Tagen am Rio Negro«, erinnert sich Wallace. Fische und einmal Delphine, die sie fangen können, helfen für ein paar Tage weiter. Zum Waschen reicht das Wasser längst nicht mehr, Wallace’ Hemden befinden sich »in einem Zustand höchst unbehaglichen Schmutzes«, wie er später berichtet, unwillkürlich Naserümpfen evozierend. Dann gerät das Schiff gleich mehrfach in Unwetter. Anfang September, da sind sie immer noch weit draußen auf dem Atlantik, erlebt Wallace zum ersten Mal einen richtigen Sturm auf See; ausgerechnet auf einem Schiff, dessen morsches Holz er mit den Fingern aus den Planken lösen kann. Die Segel der »Jordeson« zerreißen, ihr Deck wird unter schäumenden Wogen begraben, die Pumpen sind ununterbrochen in Gang; ein gewaltiger Brecher zerschmettert das Oberlicht der Kajüte und ergießt sich über die Männer darin. Wallace rechnet in diesem Moment fest mit dem Untergang des maroden Schiffes. Die letzte Zuversicht raubt ihm der Kapitän der »Jordeson«, als der sich mit einer großen Axt neben sich zur Ruhe begibt, »um die Masten zu kappen, wenn das Schiff im Sturm kentern sollte«, wie er nüchtern kommentiert.
    Aber das Schiff übersteht den Sturm; nur um kurz darauf, da sind sie bereits im Ärmelkanal, ein letztes Mal vom Schicksal heimgesucht zu werden. Dieser Orkan ist sogar noch

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