Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace (German Edition)
guten Grund zu glauben, dass der Orang-Utan, der Schimpanse und der Gorilla auch ihre Vorgänger gehabt haben. Mit welchem Interesse muss jeder Naturforscher an die Zeit denken, in der die Höhlen und Tertiärablagerungen der Tropen durchsucht sind und man die frühe Geschichte und das erste Erscheinen der großen menschenähnlichen Affen endlich kennen lernen wird.« Welch prophetische Worte, beinahe mehr als ein halbes Jahrhundert, bevor überhaupt daran gedacht wird, in Asien oder gar in Afrika nach den Zeugnissen der hominiden Evolution zu suchen; und lange bevor der Java-Mensch oder gar der Zwergmensch auf Flores gefunden werden. Wallace ist nicht nur Menschenaffenjäger, sondern zugleich ein Mann mit einer Vision für wissenschaftliche Entwicklungen weit hinter dem Horizont.
Seine Beobachtungen und Ansichten über die Menschenaffen Borneos fasst er 1856 in mehreren Artikeln in den angesehenen »Annals and Magazine of Natural History« zusammen, die sich zum Lieblingsjournal von Wallace entwickeln. Darin macht er auch die Verbindung des Orangs zum Menschen für jeden Leser deutlich. »Mit welch freudiger Erwartung sehen wir in die Zukunft, die vielleicht einmal Belege liefern wird für die frühere Existenz verwandter Arten, mehr oder weniger menschlich in ihrem Aussehen und Körperbau.« Es ist sein erstes publiziertes Bekenntnis, dass Menschen von affenähnlichen Wesen abstammen; mithin ein epochaler Artikel, zutreffend in seinen Schlussfolgerungen und zudem seiner Zeit weit voraus. Über einen Ursprung menschlicher Ahnen in Asien hatten zwar bereits Lamarck und auch Chambers, der Autor der »Vestiges«, wild spekuliert. Wallace ist nach Borneo gekommen, einen der solchen Ahnen nahestehenden Menschenaffen mit eigenen Augen zu sehen und zu studieren. Er bereitet mithin den Weg, auf dem wenige Jahre später auch andere den Mut finden, über die Abstammung des Menschen nachzudenken. Als Naturforscher auf dieser neuen Grundlage über die Stellung des Menschen in der Natur zu schreiben beginnen, etwa Thomas Huxley 1863 in seinem Aufsatz »Man’s Place in Nature« oder Charles Darwin 1871 in seinem zweiten großen Werk »Descent of Man«, werden sie auf Wallace’ Beobachtungen an den Orangs in Borneo zurückgreifen.
Dass es heute am Sadong-Fluss und an vielen anderen Orten auf Borneo längst keine Orang-Utans mehr gibt, erzählt auf eigene Weise von der traurigen Geschichte, wie wir – der vermeintliche Homo sapiens, der »weise Mensch« – mit unserer Selbst-Erkenntnis umgehen.
Das Camp in Simunjon, Sadong-Fluss – Sommer 1855: Wallace verbringt die ersten vier Monate seines Aufenthalts auf Borneo am Sarawak-Fluss in der Nähe der heutigen Stadt Kuching, von Santubong an der Mündung bis flussaufwärts zu den malerischen Kalkstein-Bergen bei Bau und Bedé. In Sarawak sieht er auch erstmals den handtellergroßen Ritterfalter Trogonoptera brookiana (den er allerdings noch zur Gattung Ornithoptera stellt). Doch fängt er den ersten, der vom Rajang-Fluss weit im Nordosten Sarawaks stammt, nicht selbst; er erhält den Falter durch Sir James Brooke. »Dieses prachtvolle Tier hat sehr große und spitze Flügel, in der Form fast einer Sphinxmotte ähnlich. Es ist tief sammetschwarz, mit einem gebogenen, sich über die Flügel von einem Ende zum anderen erstreckenden Bande von glänzend metallgrünen Flecken.« Der Brooks-Falter ist durchaus selten, Wallace selbst fängt nur zwei oder drei weitere Tiere, alles Männchen, wie er schreibt. »Wie die Weibchen aussehen, können wir nur ahnen«; tatsächlich soll das erste erst ein Jahrzehnt später gefangen werden. Wallace erweitert die Kenntnis über das Vorkommen dieser grün gezeichneten und zu den Vogelschwingenfaltern gestellten Schmetterlinge erheblich. Bis dahin waren sie nur von den Molukken und Neuguinea bekannt; jetzt fügt sich – mit einer ebenso großen wie eigentümlichen Lücke in ihrer Verbreitung – der Norden Borneos an. Gerade dadurch kommt dem zarten Schmetterling bei Wallace’ Entdeckung der Evolution eine gewichtige Rolle zu. Denn er wird aus der Tatsache, dass sowohl im Raum wie auch in der Zeit vermittelnde Zwischenformen eliminiert werden, ein wesentliches Grundprinzip – das der Divergenz – im Verlauf der Artenentstehung ableiten.
Nachdem Wallace am Sarawak gerade einmal 320 verschiedene Käfer findet, hat er dort kaum noch Hoffnung auf weitere Entdeckungen. So wechselt er den Standort und geht für die kommenden neun Monate nach
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