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Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens

Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens

Titel: Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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der Tür mit ihr zusammen. Ein Rückzug war ausgeschlossen. Sie standen einander direkt gegenüber.
    Sie mußte viel geweint haben in den letzten Stunden, denn ihre Augen waren verquollen. Sie hatte sich nicht geschminkt und war zum erstenmal, seit er sie kannte, nachlässig gekleidet: schwarze Leggings, wie sie sie sonst nur zum Joggen trug, darüber ein weißes T-Shirt, das voller Flecken war und seit Tagen in die Waschmaschine gehört hätte. Kein Schmuck. Ihre Haare waren mit einem roten Gummi zusammengebunden; seitlich hatten sich Strähnen gelöst und hingen ihr ins Gesicht. Es war klar, daß sie sich in einer desolaten psychischen Verfassung befand.
    »Ah«, sagte er, »Geraldine!«
    Eine idiotische Begrüßung, aber das schien sie gar nicht zu bemerken.
    »Ich dachte schon, du bist abgereist«, sagte sie.
    Er lachte ein wenig hektisch. »Mit deinem Wagen? Du magst eine ziemlich schlechte Meinung von mir haben, aber du solltest doch wissen, daß ich kein Dieb bin. Ich würde nie dein Auto klauen.«
    »Wo warst du?«
    Er machte eine vage Handbewegung. »Überall. Hier und dort.
Ich wollte nach Leeds fahren und einen Anwalt aufsuchen, um alles mit ihm zu besprechen, aber ich bin dann doch wieder umgekehrt. «
    »Du kennst doch gar keinen Anwalt in Leeds.«
    »Eben. Ich wollte einen Freund in London anrufen, der mir vielleicht hätte weiterhelfen können, aber ich habe ihn nicht erreicht. Dann dachte ich, ich könnte es auf eigene Faust versuchen, aber …« Er schüttelte den Kopf. »Dumme Idee. Ein halber Tag, den ich vertan habe. Egal. Ich muß mir andere Wege überlegen. Vielleicht werde ich einen Londoner Anwalt aufsuchen. Ich … im Grunde war alles noch nicht richtig von mir durchdacht. «
    Sie lächelte, ohne dadurch auch nur im geringsten glücklicher zu wirken. »Du bist immer davon ausgegangen, daß dich diese Patricia in die Arme schließt und dich als neuen Verwandten willkommen heißt und gern ihr Haus mit dir teilt. Die andere Variante hast du gar nicht wirklich in Erwägung gezogen. Und jetzt flatterst du ein bißchen hilflos herum.«
    »Mag sein. Aber ich werde eine Möglichkeit finden.«
    »Natürlich. Vorher gibst du sowieso keine Ruhe.«
    »Na ja«, sagte er, und dann standen sie einen Moment lang schweigend da, sahen einander an, und zwischen ihnen lagen die Erinnerungen an vergangene Jahre und das Wissen, daß es keine gemeinsame Zukunft gab.
    »Es hat sich wohl nichts geändert bei dir«, sagte Geraldine schließlich. Er wußte, was sie meinte, und schüttelte den Kopf.
    »Nein. Tut mir leid.«
    »Es gibt für mich kaum noch einen Grund, hierzubleiben«, meinte Geraldine.
    Er dachte, daß es für sie nie einen Grund gegeben hatte, mitzukommen, aber das sagte er natürlich nicht. »Ich glaube, für dich ist es nicht besonders spannend, hier in dieser noblen Herberge herumzusitzen. In London kannst du arbeiten.«
    »Ja.« Es war deutlich, daß sie schon wieder mit den Tränen
kämpfte, aber sie schien wild entschlossen, nicht in Phillips Gegenwart zu weinen, und er war ihr dankbar dafür. »Ich werde dann jetzt anfangen, meine Sachen zu packen. Vielleicht schaffe ich es noch heute bis nach London zurück.«
    »Es bleibt ja abends lange hell. Ich denke, du wirst kein Problem mit dem Fahren haben.« Er reichte ihr den Autoschlüssel. Er dachte, daß sie wunderbar sachlich, vernünftig und freundschaftlich mit dem Ende ihrer Beziehung umgingen, genau so, wie es die lebensfremden Berater in Zeitungen oder im Fernsehen immer propagierten. Nichts davon war echt, nicht auf Geraldines Seite. Sie war das Opfer. Fast immer gab es ein Opfer, wenn eine Beziehung in die Brüche ging; es gab den, der das Aus wollte und vorantrieb, und den, dem keine Wahl blieb. Ihm war klar, daß Geraldine ihn am liebsten geohrfeigt, ihm mit sich überschlagender Stimme die verlorenen Jahre ihres vergeblichen Hoffens vorgehalten hätte. Irgendwann würde sie es wohl auch noch tun. Er glaubte nicht, daß sie einfach aus seinem Leben verschwinden würde. Sie war der Typ, der sehr lange kämpfte, ehe er aufgab.
    Sie nahm den Schlüssel. Er sah, daß sie sich die Fingernägel abgebissen hatte. Als sie einander kennenlernten, hatte sie an den Nägeln gekaut, dann war das für eine Weile vorbei gewesen, war danach gelegentlich wieder aufgeflammt, aber nie mehr ganz schlimm. Jetzt konnte man wieder rohes, an manchen Stellen blutiges Fleisch sehen. Es ging ihr richtig schlecht, aber er wollte um keinen Preis Mitleid für sie

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