Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
attackiert worden war. Bei den Toten war jeweils ein und dieselbe Waffe benutzt worden. Das Messer hatte man auch schon bald auf der rückwärtigen Veranda gefunden. Ein Anglermesser. Mehrere dieser Art hingen in der Küche über der Spüle, eines fehlte, so daß die Vermutung sehr nahe lag, daß die Tatwaffe aus dem Haus selbst stammte. Das Messer lag zwischen den Blumentöpfen, die Patricia noch wenige Stunden zuvor bepflanzt hatte, und es hatte nicht den Anschein, als ob der Täter - oder die Täter - versucht hätte, es zu verstecken. Die Leute von der Spurensicherung, die Haus und Grundstück durchkämmten, hatten es in eine Plastiktüte gepackt; es würde nun auf Fingerabdrücke untersucht werden.
Die ersten Ermittlungen leitete Superintendent Norman, Leiter der Polizeidienststelle Leeds, den man herbeigerufen hatte, als klar wurde, daß dieser Fall eine weit größere Dimension annahm, als ortsüblich war. In Stanbury und Umgebung ging es um Schlägereien in den Pubs, um Viehdiebstahl oder Trunkenheit am Steuer. Niemand konnte sich erinnern, daß je etwas Schlimmeres geschehen war.
Nun aber hatte man vier Tote, die noch dazu barbarisch abgeschlachtet worden waren, und ein schwerverletztes Kind, bei dem nicht sicher war, ob es sich von seinen Verletzungen erholen würde. Zu allem Überfluß handelte es sich bei den Opfern um Ausländer. Das Motiv der Tat lag völlig im dunkeln.
Superintendent Norman war klein und dick, hatte listige dunkle Augen und zwei Narben auf der rechten Wange, die sein fleischiges Gesicht ein wenig markanter wirken ließen. Er trug einen dunklen Anzug und schwitzte heftig. Seine Haut glänzte feucht, und seine Stirnhaare hatten sich zu Kringeln verklebt. Er saß mit Jessica im Wohnzimmer. Nebenan, im Eßzimmer, kümmerte sich ein Arzt um Evelin, während eine Beamtin versuchte, ein Gespräch mit ihr zu beginnen. Der Arzt hatte es geschafft, Evelin die Treppe hinunterzuführen, aber sie hatte sich dabei bewegt wie eine Puppe, die nichts von dem mitbekam, was um sie herum geschah. Ihre Augen waren völlig starr.
»Eine unfaßbare Geschichte«, sagte Norman, »völlig unfaßbar. Glauben Sie, Sie können den Vormittag noch einmal mit mir durchgehen, Mrs. - äh«, er schaute auf seinen Notizblock, »Mrs. Wahlberg? Fühlen Sie sich dazu imstande?«
Sie wußte seit zwanzig Minuten, daß ihr Mann tot war. Eine junge, blonde Polizistin hatte es ihr schonungsvoll mitgeteilt. Sie war nicht besonders überrascht gewesen, hatte ruhig und gefaßt reagiert. Im Augenblick hatte sie das Gefühl, als gelinge es ihrem Verstand nicht, wirklich zu begreifen, was geschehen war. Das ganze Ausmaß ihres persönlichen Dramas drang nicht bis zu ihr vor.
»Ja. Ich bin okay.«
»Gut. Wenn Sie nicht mehr können, wenn Sie einen Arzt brauchen, dann sagen Sie es. Sie müssen sich nicht quälen, verstehen Sie?«
»Ja.«
»Zunächst: Wenn ich das richtig verstanden habe, was Sie dem Constable gesagt haben, so haben hier insgesamt neun Menschen ihre Ferien verbracht. Davon sind vier … ermordet worden. Dazu das verletzte Kind, die nicht ansprechbare Frau und Sie. Wer sind die zwei, die fehlen?«
»Meine … Stieftochter. Ricarda. Die Tochter meines Mannes aus seiner ersten Ehe. Und …«
»Wie alt ist Ihre Stieftochter?«
»Fünfzehn.«
Er nickte. Sie fuhr fort: »Und Leon. Leon ist Patricias Mann. Also der Mann der Frau, die ich … zuerst gefunden habe.«
»Die der Täter im Hof vor dem Haus getötet hat.«
»Ja.«
»Wissen Sie, wo sich Ricarda und Leon aufhalten?«
»Nein. Eines der Leihautos fehlt, und ich vermute, daß Leon damit weggefahren ist. Ich weiß aber nicht, wohin.«
»Fährt er öfter einfach so weg? Ohne zu sagen, wohin?«
»Eigentlich nicht.« Der Beamte konnte, so dachte sie, keine Ahnung haben, wie sehr seine Frage den Kern des Beziehungsgeflechts der Menschen von Stanbury House traf: Nie hatte jemand etwas getan, ohne es mit allen anderen zu besprechen.
»Aber«, fügte sie hinzu, »vielleicht hat er ja mit seiner Frau gesprochen. Oder mit jemand anderem. Wir können das nur nicht mehr herausfinden.«
»Sie haben das Haus schon recht früh heute verlassen?«
»Gegen zehn Uhr, würde ich sagen.«
Er machte sich eine Notiz.
»Was ist mit Ihrer Stieftochter? Ricarda. Wann haben Sie die zuletzt gesehen?«
»Gestern abend.«
Er zog die Augenbrauen hoch. »Heute morgen nicht?«
Sie empfand es als kompliziert, ihm all die Vorkommnisse aufzuzählen, war sich auch im klaren
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