Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
mit der Hand über das Gesicht. »So weit ist sie nun wirklich noch nicht!«
»Woher willst du das wissen? Du weißt ja nicht einmal, wo sie
sich herumtreibt. Und Einfluß hast du schon überhaupt nicht auf sie - wie auch, als geschiedener Vater. Von Elenas Erziehungsmethoden habe ich nie etwas gehalten, das weißt du. Sie hat Ricarda immer viel zuviel Freiheit gelassen, in erster Linie deshalb, damit sie selbst möglichst keine Arbeit mit dem Kind hat. Wenn ich mir überlege, wie ich mich für Diane und Sophie engagiere - das wäre für Madame natürlich nichts gewesen!«
Jessica wunderte sich oft, mit welcher Härte und Verachtung im Freundeskreis über Alexanders geschiedene Frau gesprochen wurde. Schließlich hatte sie jahrelang dazugehört, die Ferien in Stanbury geteilt, mit ihnen allen gelebt, geredet, gelacht oder vielleicht auch einmal ihr Herz ausgeschüttet. In dem Moment der Scheidung war sie offenbar zur Verfemten geworden. Jessica mischte sich ein, weil sie den Eindruck hatte, daß Alexander unter dem Maschinengewehrfeuer von Patricias Ausführungen wehrlos geworden war.
»Ich glaube, wir sollten nicht den Teufel an die Wand malen«, sagte sie. »Es ist ganz normal, daß sich ein Mädchen in Ricardas Alter von der Familie absetzt und eigene Wege geht. Bei mir war das genauso.«
»Bei meinen Töchtern wird das nicht so sein«, erklärte Patricia mit Bestimmtheit, und die Mädchen, denen, wie Jessica fand, schon heute ein außergewöhnliches Maß an Selbstgerechtigkeit anhaftete, lächelten zustimmend.
Leon brachte einen Trinkspruch auf die bevorstehenden Ferien aus, und alle prosteten einander zu. Es war zweifellos so, daß eine sehr warme Strömung von Freundschaft, Zusammengehörigkeit und Vertrauen durch den alten, holzgetäfelten Raum zu wehen schien. Jessica konnte verstehen, daß Menschen an einer fast familiären Struktur hingen, die über so viele Jahre gewachsen war. Sie betrachtete die drei Männer, die einander seit ihrer Kindheit verbunden waren. Alexander, Leon und Tim.
»Uns konntest du immer nur zusammen antreffen«, hatte Alexander ihr einmal erzählt, »eigentlich taten wir alles gemeinsam.
Und wir sind froh, daß wir diese Freundschaft erhalten konnten, obwohl jeder von uns zwangsläufig in der Universität eigene Wege gehen mußte.«
Jessica hatte Leon kurz vor dem Abendessen auf seine Auseinandersetzung mit Tim angesprochen.
»Hattet ihr Streit? Ich sah euch durch den Garten kommen, und ...«
Leon hatte sie mit einem kurzen Lachen unterbrochen. »Um Gottes willen! Da hast du etwas mißverstanden. Wir haben nicht gestritten. Tim hat mir erzählt, woran er gerade arbeitet, und ich habe sehr interessiert zugehört. Vielleicht hast du unsere Konzentration als Verstimmung gedeutet, aber das war wirklich nicht der Fall.«
Jessica hatte nicht den Eindruck, sich getäuscht zu haben, aber aus den wenigen Erfahrungen, die sie mit den Freunden gewonnen hatte, wußte sie bereits, daß es keinen Sinn gehabt hätte, nachzuhaken.
So wandte sie sich nun bei Tisch an Tim. »Tim, ich habe gehört, du arbeitest an einer interessanten Sache. Kannst du darüber schon sprechen?«
»Nun«, sagte Tim, »ich arbeite nicht an einem bestimmten Fall, wenn du das meinst. Ich habe nur begonnen, meine Promotion vorzubereiten.«
»Warum willst du plötzlich promovieren?« fragte Patricia. »Deine psychotherapeutische Praxis läuft glänzend, deine Seminare für Selbstbehauptungstraining ebenso. Glaubst du, es spielt eine Rolle, ob du einen Doktor vor dem Namen trägst?«
»Meine liebe Patricia«, erwiderte Tim, »ich finde, ein großer Reiz des Lebens besteht in den Herausforderungen, die wir an uns richten und denen wir uns dann mit all unserem Einsatz widmen. Es geht schließlich nicht nur um das, was wir unbedingt brauchen. Es geht um das Vorankommen, darum, die eigene Meßlatte immer wieder ein Stück höher zu legen.«
»Welches ist das Thema deiner Doktorarbeit?« fragte Jessica.
Es gefiel Tim, mit seinem Projekt im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit zu stehen, das konnte man ihm ansehen.
»Abhängigkeit«, antwortete er.
»Abhängigkeit, die sich zwischen Menschen entwickelt?«
»Ja, und auch bestimmte Täter-Opfer-Konstellationen, die daraus entstehen. Was bei einem Abhängigkeitsverhältniss zwischen zwei Menschen fast immer der Fall ist. Wer ergreift warum welche Rolle? Welchen Nutzen zieht jeder von beiden daraus?«
»Das klingt interessant«, gab Jessica zu.
»Das ist
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