Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
Bowen ist schon einmal in unser Haus eingedrungen. Er hat Patricia wiederholt bedroht. Er ist fanatisch, ein Wirrkopf, ein Verrückter. Ich werde Norman sofort anrufen und ihm das sagen.«
»Sei vorsichtig, Leon. Warum sollte Phillip Bowen so viele Menschen töten?«
»Weil er nicht ganz richtig im Kopf ist! Hör zu, Jessica, du stimmst sicher mit mir überein daß das, was in Stanbury House geschehen ist, das Werk eines Verrückten sein muß. Bowen ist ein Verrückter, der sich in eine fixe Idee hineingesteigert und alle Symptome einer obsessiven Persönlichkeit gezeigt hat.« Er zog
sein Handy aus der Tasche. »Du hast doch sicher die Nummer von Norman hier. Er soll Bowen umgehend verhaften.«
»Leon …«
»Die Nummer!«
Sie diktierte sie ihm, und während er sprach, wühlte sie ihren Kopf tief in ihr Kissen. Der Bezug roch nach Waschpulver, und irgendwie empfand sie diesen Umstand als ein wenig tröstlich.
6
Keith fand es sehr erstaunlich, wie Ricarda auf die Nachricht von dem Massaker in Stanbury House reagierte. Er hatte ihr nicht genau sagen können, wer unter den Toten war und wer nicht, aber daß es eine ganze Anzahl Opfer gegeben hatte, soviel hatte sich im Dorf und in der Umgebung herumgesprochen. Selbst in die Einöde des Bauernhofs, auf dem Keith mit seiner Familie lebte, war die Nachricht gedrungen; Keiths Schwester hatte aufgeregt davon erzählt, und Keith hatte voller Ungläubigkeit ein paar Freunde angerufen und die Nachricht bestätigt bekommen. Seine Mutter, Gloria Mallory, nahm natürlich nichts davon zur Kenntnis. Sie saß wie erschlagen in der Küche, in der sie am Morgen noch mit ihrem gesunden Mann gefrühstückt hatte, und versuchte zu begreifen, daß sie nun womöglich für den Rest ihres Lebens mit einem Pflegefall belastet sein würde. Am Nachmittag war die Gemeindeschwester vorbeigekommen und hatte ihre Hilfe für den Fall angeboten, daß man Greg bald entlassen und Gloria zunächst mit der Pflege überfordert sein würde. Schließlich hatte sie mit Keith im Wohnzimmer zwei Schnäpse getrunken, und sie hatten über die grausige Bluttat gesprochen, die das ganze liebliche Tal von Stanbury mit Entsetzen und Erschütterung erfüllte.
»Unglaublich«, hatte die Schwester wieder und wieder gesagt,
»so etwas in unserer Gegend! Und nach meiner Information hat die Polizei noch niemanden verhaftet! Im Dorf gibt es Leute, die trauen sich nur noch in größeren Gruppen auf die Straße!«
Keith, der davon ausging, daß Ricarda nach Hause gelaufen war, konnte es vor Unruhe irgendwann kaum mehr aushalten. Er mußte endlich Bescheid wissen, mußte herausfinden, ob ihr etwas zugestoßen war. Seine Schwester reagierte pikiert, als er am Abend schließlich sagte, er müsse noch einmal weg.
»Wenn du meinst, daß du Mum jetzt allein lassen kannst«, bemerkte sie spitz, und er erwiderte, daß sie ja da sei, sich um die Mutter zu kümmern. Gloria saß sowieso nach wie vor in der Küche und sagte kein Wort.
Er fuhr zunächst nach Stanbury House, parkte in einiger Entfernung und lief das letzte Stück. Der Aprilabend war hell und warm und so friedlich, daß jeder Schrecken unvorstellbar schien.
Aber bereits hundert Meter vor dem Tor bemerkte er die Menschenansammlung und sah die Absperrbänder der Polizei. Es wimmelte von Autos und Beamten, und er erkannte sogar einige Spürhunde, die durch die wuchernden Büsche entlang der Mauerreste um das Grundstück geführt wurden. Keith sah ein, daß es ihm kaum gelingen würde, bis zum Haus vorzudringen, und er wagte es auch nicht, sich bei einem der gereizt und ungeduldig wirkenden Polizisten nach Ricarda zu erkundigen. In seiner wachsenden Hilflosigkeit und Angst war er schließlich zu dem verlassenen Hof gefahren, der ihm als zweites Zuhause diente, denn es war der einzige Ort, an dem er sich noch vorstellen konnte, Ricarda zu finden. Er hätte schreien mögen vor Erleichterung, als er sie auf dem Sofa kauern sah, mit angezogenen Beinen, in eine Decke gewickelt, Tränenspuren auf dem Gesicht. Er hatte sich neben sie gesetzt und sie in den Arm genommen, festgehalten und sanft hin- und hergeschaukelt, von seiner Mutter erzählt und wie geschockt sie war, und er hatte gesagt, wie leid es ihm tue, daß nun nichts geworden war aus dem gemeinsamen Neuanfang in London.
»Aber das heißt nicht, daß wir nicht doch eines Tages zusammenleben werden. Nur nicht jetzt, verstehst du? Ich kann Mum nicht allein lassen. Es ist sowieso die Frage, was nun aus dem Hof
Weitere Kostenlose Bücher