Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
paar Fragen habe. Sie bleiben im Hotel?«
Noch als er gegangen war, überlegte sie, ob sein letzter Satz eine Frage oder ein Befehl gewesen war.
Eine knappe Stunde später traf Evelin ein.
Sie tranken Tee. Wie in jedem englischen Gästezimmer befanden sich auch in den Schlafräumen des The Fox and The Lamb jeweils ein Wasserkocher, ein Körbchen mit zahlreichen Teebeuteln in verschiedenen Sorten, Zuckertütchen und Milchpulver. Jessica hatte diese Sitte immer gemocht, war aber noch nie so dankbar dafür gewesen wie jetzt: Um etwas zu trinken zu bekommen, mußte sie nicht hinuntergehen und dabei Gefahr laufen, einem Journalisten zu begegnen.
Evelin trug eines ihrer sackähnlichen Gewänder und hatte einen etwas dramatisch wirkenden Schal um den Hals geschlungen. Sie war sehr blaß, aber sie sah nicht anders aus als sonst auch: wie ein verschrecktes Kaninchen. Aber sie hatte nicht mehr die irritierende Starre in den Augen, diese Blicklosigkeit, mit der Jessica sie in dem winzigen Mansardenbad vorgefunden hatte. Obwohl es nicht kühl im Zimmer war, hielt sie beide Hände um ihre Teetasse gepreßt, als wollte sie sich daran wärmen.
»Die Polizisten waren alle sehr nett zu mir«, sagte sie, »und auch die Psychologin, die mit mir gesprochen hat, und der Arzt im Krankenhaus. Es ist so schwierig für mich, ihnen allen richtig zu antworten. Irgendwie fehlt mir ein Stück in der Erinnerung. Ich sehe Blut und lauter Tote, dann ist ein großes Nichts, und dann bin ich im Eßzimmer in Stanbury House, ein Arzt ist da und eine Polizeibeamtin, und dann die Psychologin. Alle sind sie sehr liebevoll mit mir … es hat ganz lange gedauert, bis ich wieder wußte, was passiert war.«
»Bevor die Polizei kam, hast du oben im Bad neben den Kinderzimmern gekauert«, sagte Jessica. »Ich habe dich dort gefunden. Nachdem ich …«
Sie sprach den Satz nicht zu Ende, aber Evelin sah sie aufmerksam an. »Ja?« fragte sie.
»Nachdem ich Patricia gefunden hatte. Und … und Tim. Und Diane …«
Sie schwiegen beide. Jessica nahm einen tiefen Schluck von ihrem Tee. Er schmeckte heiß und süß und tröstlich.
Evelin rieb sich über die Stirn. »Hast du auch den Eindruck, du müßtest jeden Moment aus einem bösen Traum erwachen?«
»Ja. Ich kann nicht glauben, daß das alles passiert sein soll. Es ist so … unwirklich.«
»Ich habe zuerst Patricia gefunden«, sagte Evelin unvermittelt, »ich habe sie noch angesprochen. Sie kauerte so eigenartig da, aber das habe ich nicht richtig realisiert. Ich habe sie gefragt, ob ihr nicht zu heiß ist in der Sonne beim Arbeiten, und als sie nicht antwortete, dachte ich, sie hat mich nicht gehört. Ich bin näher hingegangen und habe noch mal gefragt, und wieder kam keine Antwort, und da dachte ich plötzlich, daß sie irgendwie eine eigenartige Haltung hat und sich ja auch gar nicht bewegt … ja, und dann sah ich, daß ihr Gesicht in der Erde lag und daß … du weißt ja. Du hast es selbst gesehen.«
»Ja«, sagte Jessica. Für einen Moment verstärkte sich das Gefühl der Übelkeit, das sie schon den ganzen Morgen belastete. Es stieg an zu einer Welle und ließ sie krampfhaft schlucken. »Ja. Ich habe es selbst gesehen.«
»Ich bin ins Haus gerannt. Ich glaube, daß ich in dem Moment nicht einmal daran dachte, die Polizei oder den Krankenwagen zu rufen. Ich wollte nur weg. Ich wollte sie nicht mehr anschauen. Ich bin in die Küche gelaufen …« Sie hielt inne, lächelte gequält. »Typisch, nicht? Selbst in einer Situation wie dieser lande ich noch unweigerlich in der Küche.« Ihr Lächeln knipste sich so schnell aus, wie es gekommen war. »Dort lag Tim. Diesmal
wußte ich sofort, daß er tot war. Um ihn herum war Blut. Ich bin auf die Knie gefallen, ich habe ihn festgehalten. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich so bei ihm gelegen habe, eine Ewigkeit vielleicht oder auch nur eine Minute. Ich bin aufgestanden und aus der Küche gegangen, und dann bin ich die Treppe hinaufgelaufen …« Ein angestrengter Ausdruck trat in ihre Augen. »Ich wollte nach den Kindern sehen. Ich hatte plötzlich schreckliche Angst um die Kinder … ja, ich glaube, so war es. Oben lag Diane und war tot, und das ist das letzte Bild, das ich sehe. Diane in ihrem Bett, zusammengebrochen über einem Buch, sicher eines der Pferdebücher, die sie immer las … das arme, kleine Ding … Von da an«, sie schüttelte hilflos den Kopf, »von da an ist alles dunkel …«
»Du hast dich verschlossen. Das ist völlig
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