Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
mit ihrem Aussehen auszufüllen. Es gab kaum einen Menschen, der sie nicht fasziniert anstarrte, wenn er ihr begegnete. Sie hatte pechschwarze Haare, die ihr bis auf die Hüften fielen, und leuchtend grüne Augen, die zudem ein wenig schräg standen. Die sehr hohen Wangenknochen machten ihr blasses Gesicht zart, die vollen Lippen machten es sinnlich. Sie hatte eine perfekte Figur und als Fotomodell einen ausgebuchten Auftragskalender. Sie war fünfundzwanzig und wußte, daß sie jeden Abend mit einem anderen wohlhabenden, interessanten Mann hätte ausgehen, Champagner trinken und sich beschenken lassen können.
Sie fragte sich, weshalb sie an Phillip Bowen geraten war und ihn nicht loslassen konnte.
Zumal er kaum etwas tat, um sich ihre Zuneigung zu erhalten.
Nur seinetwegen saß sie an diesem Apriltag, kurz vor Ostern, im Schankraum des The Fox and The Lamb, eines kleinen Hotels in West-Yorkshire, und wartete auf ihn. Wobei letzteres keineswegs unüblich war: Im Gegenteil, manchmal hatte sie das Gefühl,
ihr Leben bestehe - außerhalb ihres streßreichen Berufs - nur darin, auf Phillip Bowen zu warten.
Sie hatte vorher in ihrem Leben nie etwas von dem Ort Stanbury gehört, und überhaupt war sie noch nie in Yorkshire gewesen. Ihre Arbeit führte sie in die verschiedenen europäischen Metropolen, und gelegentlich auch nach New York, und ihre Urlaube verbrachte sie stets im Süden, irgendwo, wo es weiße Strände und Palmen und blauen Himmel gab. Einmal war sie in Schottland gewesen, das ihr in seiner Großartigkeit gefallen hatte, und sie hatte dort viele Orte von wilder, romantischer Einsamkeit gefunden. Aber Yorkshire …
Stanbury, das winzige Dorf, lag nur einen Steinwurf entfernt von Haworth, dem Dorf, das durch die Brontës berühmt geworden war. Das Pfarrhaus der Schwestern stand für Besichtigungen offen, und man konnte, wie der Reiseführer empfahl, einem Wanderweg über das Hochmoor folgend, zu der Ruine des Landhauses Top Withins gelangen, das Vorlage gewesen sein sollte für Emily Brontës berühmtes Wuthering Heights . Geraldine hatte sich vorgenommen, am Nachmittag ebendieses zu tun, und Phillip hatte versprochen, sie zu begleiten. Vor einer halben Stunde waren sie verabredet gewesen. Er hatte noch einmal hinausfahren wollen nach Stanbury House, aber natürlich kam er nicht pünktlich zurück.
Sie hatte es oben im Zimmer nicht mehr ausgehalten und sich deshalb hinunter in den Schankraum begeben, einer Art Pub, in dem mittags ein Buffet angeboten wurde. Eine Familie hatte sich um einen Ecktisch gruppiert, vier lärmende Kinder und die gestreßten Eltern, und seit Geraldine da war, debattierten sie, was sie essen wollten, ohne zu einem Ergebnis zu gelangen. Die blasse, erschöpfte Mutter sah so aus, als wünsche sie sich nichts mehr, als noch einmal jene Lebensphase geschenkt zu bekommen, in der sie und ihr Mann noch allein und nicht mit einer Schar tobender Nachkömmlinge gesegnet gewesen waren. Und Geraldine dachte, wie gern sie mit ihr getauscht hätte.
Es war immer klar gewesen für sie, daß sie eine Familie haben wollte. Im Grunde hatte sie stets ein besonders bürgerliches Leben angestrebt. Sie war als Sechzehnjährige in einer Diskothek als Model entdeckt worden, aber sie verfügte über einen gesunden Realitätssinn und wußte, daß dies keine Aufgabe für alle Zeiten sein konnte. Mit dreißig wollte sie verheiratet und Mutter zweier Kinder sein. Und nun sah es so aus, als werde alles ganz anders kommen.
Sie trank von dem Mineralwasser, das sie sich bestellt hatte, und schaute häufig zur Tür, doch Phillip ließ sich noch immer nicht blicken. Vom Buffet her duftete es verlockend, doch sie versagte sich jeden Gedanken an Essen. Ihre Figur war ihr Kapital, und wenn sie den Tag über standhaft blieb, konnte sie heute abend irgendwo mit Phillip gemütlich essen gehen, vielleicht sogar ein Glas Wein trinken und ein bißchen über die Zukunft reden. Und im übrigen wollte sie ihm noch einmal sagen, daß sie wegen dieser Yorkshire-Reise einen äußerst lukrativen Auftrag in Rom abgesagt und sich mit ihrer Agentin zerstritten hatte, und …
Sie unterbrach sich selbst in ihren Gedankengängen und lächelte müde. Denn natürlich könnte Phillip darauf sofort entgegnen, daß er sie keineswegs darum gebeten hatte, ihn zu begleiten, und das stimmte. Sie hatte es wieder einmal nicht aushalten können, ihn alleine gehen zu lassen. Lucy, ihre Agentin und Freundin, war diesmal wirklich wütend
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