Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
anderen hätte hängenbleiben können. Evelin hatte das Pech gehabt, eine widersprüchliche, unstimmige Geschichte erzählt zu haben, doch wer wollte dies nicht für durchaus natürlich halten angesichts des Schocks, unter dem sie gestanden hatte?
Superintendent Norman. Inspector Lewis. Die hielten es offenbar nicht für natürlich.
Das Motiv sahen sie in dem Umstand, daß Evelin offenbar unter Mißhandlungen durch ihren Mann gelitten hatte. Aber würde sie ihn deshalb töten? Würde sie in einer Art Amoklauf alle töten, die ihr zufällig vors Messer gerieten? Die dicke, depressive Evelin? Immer sanft, immer nett? Es paßte nicht. Beim besten Willen konnte Jessica dies nicht glauben.
Ricarda. Sie dachte an die Haßphantasien, die sie in ihrem Tagebuch ausgelebt hatte. Die Vorstellung, die ganze Clique tot zu sehen, hatte beängstigend stark Besitz von ihr ergriffen. Offenbar gab sie Patricia, aber auch den anderen, die Schuld am Scheitern der Ehe ihrer Eltern. Über die Scheidung war sie ganz eindeutig bis heute nicht hinweggekommen. Aber würde sie deshalb hingehen und fünf Menschen töten?
Leon. Er hatte mit dem Rücken zur Wand gestanden. Seine finanziellen Probleme waren massiver gewesen, als er irgend jemandem - außer vielleicht Tim - anvertraut hatte. Dazu zwei anspruchsvolle Töchter, die einen hohen Lebensstandard gewöhnt waren und als selbstverständlich nahmen. Und eine Ehefrau, die er wegen der Unnachgiebigkeit, mit der sie ihn zum Erfolg antrieb, eigentlich gar nicht hatte heiraten wollen. Ihr sein berufliches Scheitern zu gestehen mußte ein Gang durch die Hölle gewesen sein. Immer wieder gab es Männer, die in derartigen Situationen keinen anderen Ausweg sahen, als die ganze Familie auszulöschen. Sich von ihren Erwartungen, Forderungen, ihrer Kritik oder sogar Häme für alle Zeiten zu befreien. Allerdings setzten diese Männer dann zumeist auch dem eigenen Leben ein Ende oder versuchten es zumindest. Doch weshalb sollte Leon auch Tim und Alexander töten?
Seine beiden besten Freunde. Sie waren immer zusammen, vom Kindergarten an. In ihrem festen Bündnis ist er derjenige, der materiellen Schiffbruch erleidet. Quält ihn auch ihnen gegenüber das Gefühl, ein Versager zu sein? Sind seine Freunde für ihn ebenso unerträglich geworden wie die Familie?
Und ich? fragte sie sich. Wo könnte mein Motiv liegen?
Sie schüttelte den Kopf, stand auf, griff nach ihrem Badehandtuch, hüllte sich darin ein. Sie starrte in den Spiegel über dem Waschbecken. Sah ihr blasses Gesicht, um das sich feuchte Haarsträhnen kringelten.
Ich habe kein Motiv.
Aber vielleicht würden das die anderen von sich selbst ebenfalls
im Brustton der Überzeugung behaupten. Vielleicht würden sie zwischen Ärger und Belustigung schwanken, wenn sie erführen, was sich aus ihrer jeweiligen Lebenssituation konstruieren ließ.
Sie putzte ihre Zähne, dachte dabei an Phillip, von dessen Schuld Leon überzeugt war - oder besser: gewesen war, ehe er aufhörte sich mit irgend etwas anderem als der Bewältigung seines eigenen Elends zu beschäftigen. War Phillip plötzlich durchgedreht? Außer sich geraten vor Wut, weil niemand ihm glaubte, weil sie ihn abgefertigt hatten wie einen lästigen Verrückten, der mit einer fixen Idee im Kopf herumläuft? Wie fühlte es sich an, von einem Rechtsanspruch überzeugt zu sein und nirgendwo Gehör zu finden? Konnte dies einen Mann zu solch einer Wahnsinnstat treiben?
Natürlich konnte es das. Die Zeitungen waren voll von Begebenheiten dieser Art.
Sie wußte, daß sie nicht würde schlafen können, obwohl es inzwischen ein Uhr in der Nacht war. Noch immer mit nichts als dem Badetuch bekleidet, ging sie hinunter ins Wohnzimmer. Barney lag auf dem Sofa und blinzelte sie verschlafen an. Sie setzte sich neben ihn, kraulte sein Fell, während sie mit der Fernbedienung des Fernsehers durch die Programme zappte. Sie verspürte das starke Bedürfnis nach einem weiteren Glas Wein, aber sie verbot sich diesen Wunsch energisch. Sie mußte an das Baby denken.
Und ich muß an Evelin denken, sagte sie sich. Vielleicht sollte sie ein wenig in Evelins Leben herumstöbern. Vielleicht fand sich etwas, das sie entlastete, das zumindest die Frage des Motivs in ein anderes Licht rückte. Das Problem war, daß Leon zur Zeit ausfiel. Aber irgendwie hatte das alles mit dem Freundeskreis zu tun, mit diesem eigenartig künstlichen Gebilde, das nur auf den ersten Blick aus Harmonie und Zusammengehörigkeit bestand,
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