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Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens

Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens

Titel: Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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lediglich versucht, das, was ich für mein Recht halte …«
    Der Anwalt hatte ihn nicht ausreden lassen. »Ihr Recht oder das, was Sie dafür halten, interessiert aber im Augenblick niemanden. Was Stanbury betrifft, so geht es da jetzt in erster Linie darum, ein scheußliches Verbrechen aufzuklären, und die Polizei wird sich auf alles stürzen, was im geringsten zwielichtig erscheint. Deshalb versuchen Sie, trockene Füße zu behalten.« Er war aufgestanden, zeigte, daß er das Gespräch beenden wollte. »Dies ist natürlich nur ein Rat von mir«, sagte er, »den Sie befolgen können oder nicht.«
    Phillip wußte, daß es zumeist durchaus angebracht war, den Rat von Anwälten zu befolgen, aber letztlich lief dies darauf hinaus, daß er gar nichts mehr tat, den Kopf einzog und wartete, daß Gras über die Sache - was bedeutete: über die Morde - wuchs. Wenn Evelin zu einer Haftstrafe verurteilt war, konnte er aus der Versenkung auftauchen und erneut seine Ansprüche anmelden. Wenn dann nicht alles zu spät war. Was wußte er denn, was nun mit Stanbury House geschah? Die Hälfte der Truppe, die es regelmäßig bevölkert hatte, war tot. Am Ende würde der trauernde Witwer das ganze Anwesen verkaufen. Sollte es tatsächlich irgendwann in grauer Zukunft gelingen, eine Exhumierung Kevin McGowans durchzusetzen, könnte es dann nur noch
um einen Anteil am Erlös gehen. Und an Geld war Phillip in diesem Zusammenhang nie interessiert gewesen.
    Irgendwie, dachte er, läuft mir die Sache aus dem Ruder. Wie immer.
    In der U-Bahn herrschte eine Luft zum Zerschneiden, und die Menschen standen gepreßt wie die Ölsardinen. Es roch nach nassen Mänteln und Regenschirmen, und aus unerfindlichen Gründen schienen an den Stationen kaum Leute aus-, dafür aber immer mehr einzusteigen. Phillip stand an eine korpulente Dame gedrängt, die etwa einen Kopf kleiner war als er; ihre sich in der hohen Luftfeuchtigkeit in alle Richtungen sträubende Dauerwelle kräuselte sich vor seinem Mund, und er hatte das Gefühl, ständig graue Haare einzuatmen.
    Wieso lebe ich überhaupt in London? fragte er sich. Er dachte an die weiten Wiesen und Moore rund um Stanbury, sah sich an einem Abend wie diesem mit einem Hund über die Felder streifen, in Gummistiefeln, Barbourjacke und mit karierter Schirmmütze. Um ihn herum Frieden, Einsamkeit und Freiheit. Es roch nach nassem Gras, nach Erde und Blüten. Zu Hause warteten ein Kaminfeuer und ein Whisky.
    Wer hätte je gedacht, daß er sich ein solches Bild ausmalen - und sich nach seiner Verwirklichung sehnen könnte? Fast hätte er über sich selbst gelacht, aber er unterdrückte es, weil er befürchtete, erneut einen Schwung Haare zwischen die Lippen zu bekommen. Und genaugenommen war es nicht im geringsten zum Lachen, in dieser U-Bahn eingequetscht zu stehen und einem tristen Zuhause entgegenzufahren.
    Er atmete auf, als er im Londoner Osten endlich aussteigen konnte, obwohl ihn sofort der Regen wieder begrüßte, als er aus dem Bahnhof nach oben kam. Die Straßen lagen grau und trist vor ihm. Arbeitersiedlungen, alte, verwohnte Häuser in langen Zeilen, verwahrloste kleine Gärten davor. Nach hinten düstere Höfe, die verstellt waren mit Autoreifen und Blechteilen und ausrangierten Waschmaschinen, die über Jahre vor sich hinrosteten.

    An manchen Wäscheleinen hing Wäsche, trotz des Regens. Vor einem Haus stand ein leerer Kinderwagen, offensichtlich dort vergessen und inzwischen triefend naß. Hinter den Wohnzimmerfenstern flimmerten die Fernseher. Kindergeschrei mischte sich mit den wütenden Stimmen streitender Erwachsener. Irgendwo bellte ein Hund. Es roch intensiv nach gebratenen Zwiebeln. Eine Hochbahn brauste vorbei, ließ die Fensterscheiben einiger Häuser klirren und erfüllte die Straße mit ohrenbetäubendem Lärm.
    Phillip ließ die Reihenhaussiedlung hinter sich und bog in eine Straße ab, an deren Seiten sich kasernenartige, mehrstöckige Nachkriegsbauten befanden. Hier fehlte sogar das winzige Stück Rasen vor der Haustür, das vor die Reihenhäuser zumindest einen Hauch von Grün gezaubert hatte. Die Mieten waren spottbillig, aber freiwillig zog niemand hierher. Vom Mauerwerk bröckelte der Putz, die meisten Straßenlaternen waren kaputt, und nahezu jede Wand, jedes Tor, jede Tür war mit Graffiti besprüht; in der Hauptsache wüste Obszönitäten in grausamer Orthographie. Phillip spähte hinauf zu dem schrägen Dachfenster seiner Wohnung - wobei der Ausdruck Wohnung übertrieben

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