Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
war; es handelte sich lediglich um ein einziges Zimmer. Er hatte gehofft, das Fenster sei dunkel, aber natürlich brannte Licht, und ihm war klar, daß er es nicht wirklich anders erwartet hatte. Sie war da. Sie war jetzt einfach immer da. Wenn sie nicht gerade arbeitete.
Es war nicht so, daß Geraldine offiziell bei ihm eingezogen war, und sie hatten auch nicht über derartiges gesprochen. Sie hatten eigentlich über sich, ihre Beziehung, ihre Zukunft gar nicht mehr geredet, seitdem sie von Yorkshire abgereist waren. Aber Geraldine verhielt sich so, als habe auch jedes andere Gespräch dort oben in Stanbury nie stattgefunden. Er hatte ihr die Beziehung aufgekündigt, aber sie ignorierte diesen Umstand. Sie war in das alte Leben vor Stanbury zurückgeschlüpft und hatte es intensiviert. Ihren Schlüssel zu Phillips Wohnung hatte sie nicht zurückgegeben und kreuzte dort immer auf, wenn sie in London war. Sie
kaufte ein, putzte und staubsaugte, stellte Blumen in eine Vase, hatte einen Teppich und zwei Bilder mitgebracht. Sie hatte aus dem trostlosen Loch zweifellos das beste gemacht, was man daraus machen konnte, aber es war nicht das, was Phillip wollte, und überhaupt hatte sie sich das Gehabe einer Ehefrau zugelegt, die ihren Mann umsorgt und stets für ihn da ist. Was er noch weniger wollte, aber in wütender Resignation hinnahm.
Natürlich wußte er, warum er das tat, und warum sie das tat. Es war das verdammte Alibi, das die Verbindung zwischen ihnen wieder hergestellt hatte. Auch darüber hatten sie kein Wort mehr verloren, und doch hatte es alles verändert: Sie zementierte ihren Platz in seinem Leben. Und er fühlte nicht mehr die Freiheit, sie zum Teufel zu schicken.
Er stieß die Haustür auf - die lose in den Scharnieren hing und schon lange nicht mehr richtig schloß - und tauchte ein in die Dunkelheit des engen Treppenhauses, das von abgestandenen Essensgerüchen und von dem beißenden Gestank eines scharfen Putzmittels erfüllt war. Die Stufen knarrten. Auf einigen Treppenabsätzen lagen unfachmännisch abgeschnittene Stücke flauschigen Teppichbodens, in scheußlichen Farben und Mustern, von Dreck und Milben verseucht. Auf anderen standen Bierkästen oder flogen Schuhe und alte Zeitungen herum. Nicht alle Lampen - die ohnehin nur aus nackten Glühbirnen bestanden - brannten. Viele waren kaputt und machten vorsichtiges Vorantasten notwendig. Phillip war es gewöhnt, und früher hatte er über sein Zuhause, dessen Häßlichkeit und Trostlosigkeit, nie nachgedacht. Inzwischen aber legte sich jedesmal ein dumpfer Druck auf seine Brust, wenn er von seiner BBC-Tätigkeit oder einem Streifzug durch die Stadt zurückkehrte. In erster Linie war es jedoch nicht die Tristesse, die ihm zu schaffen machte. Vielmehr war es die Enge, die ihm im Dämmerlicht zwischen den dunklen, fleckigen Wänden das Atmen erschwerte. Die Enge seiner Wohnung. Die Enge dieses Hauses. Vielleicht aber auch die Enge Londons, der Straßen und Häuser und vielen Menschen.
Ich war ein anderer früher, dachte er, ein ganz anderer. Vor Stanbury.
Geraldine riß die Wohnungstür auf, noch ehe er Zeit gefunden hatte, seinen Schlüssel hervorzukramen. Offenbar hatte sie seine Schritte auf der Treppe gehört.
»Da bist du ja! Es ist spät geworden, nicht? Stell dir vor, Lucy ist da!«
Er hatte den Eindruck, daß sie ihn absichtlich abgefangen hatte, um ihn rasch über Lucys Anwesenheit zu unterrichten, ehe er anfangen könnte, von dem Gespräch mit dem Anwalt zu berichten. Möglicherweise hatte sie ihrer Busenfreundin davon ausnahmsweise nichts erzählt. War ihr peinlich wahrscheinlich. (»Nach allem, was passiert ist, rennt er jetzt tatsächlich zum Anwalt wegen seiner blöden Exhumierungsidee! So besessen kann man doch gar nicht sein!«)
Er trat in den kleinen Raum, der Küche, Wohn- und Schlafzimmer unter schrägen Wänden in sich vereinte. Das Dach des Hauses war an mehreren Stellen undicht, und die eindringende Feuchtigkeit löste an allen Ecken und Enden die Tapete ab. Was nicht schade war, wie Phillip immer fand. Er hatte die grüngoldenen Ornamente auf eierschalfarbenem Hintergrund nie leiden können.
Lucy Corley saß an dem kleinen Bistrotisch, der in der sogenannten Kochnische stand, zwischen dem hölzernen Schrank und dem elektrischen Kocher mit zwei Herdplatten. Sie rauchte eine Zigarette, und der vor ihr stehende, überquellende Aschenbecher verriet, daß sie schon eine ganze Weile da war. Phillip fand, daß Lucy eine der
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