Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
unattraktivsten Frauen war, die er je gesehen hatte: klein, quadratisch, flachbrüstig, dafür mit im Verhältnis zu ihrer Größe überdimensional langen Füßen und Händen wie Baggerschaufeln. Ihre schulterlangen Haare trug sie schwarz gefärbt, dabei war ihre Naturfarbe ein sehr helles Braun, und das Schwarz bildete einen viel zu harten Kontrast zu ihrer ewig bleichen Gesichtsfarbe. Ihre Modellagentur managte
sie mit großem Einsatz und Erfolg, und die Härte, die ihr dieser Beruf auf einem gnadenlosen Markt abverlangte, zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. Sie hatte ausgesprochen scharfe Züge für ihr Alter. Aus ihrer Abneigung gegen Phillip hatte sie nie einen Hehl gemacht. Er wußte, daß sie ihn für einen Versager hielt, der sich auf skrupellose Weise von Geraldine aushalten ließ und dabei ihre Gefühle mit Füßen trat. Da er sich nicht das geringste aus ihr machte, war es ihm egal, was sie von ihm dachte, aber es nervte ihn zutiefst, daß Geraldine sie hierherschleppte und er sie nun auch noch am Hals hatte.
»Hallo, Phillip«, sagte Lucy. Sie hatte eine tiefe, heisere Stimme, was vermutlich an ihrem hohen Zigarettenkonsum lag. »Du arbeitest, habe ich gehört?«
Sie sagte dies in einem Ton, als spreche sie von einem geradezu unerhörten Phänomen. Er beschloß, darauf nicht einzugehen.
»Hallo, Lucy. Was führt dich hierher?«
»Lucy und ich haben bei einer Tasse Kaffee völlig die Zeit vergessen«, sagte Geraldine, »deshalb habe ich auch noch gar kein Abendessen vorbereitet. Aber ich werde gleich …«
»Mach dir meinetwegen keine Mühe«, unterbrach Phillip mürrisch und streifte sein nasses Jackett ab, löste die Krawatte, schlüpfte aus seinen Schuhen, in denen das Wasser quietschte. »Ich erwarte bestimmt kein Essen, wenn ich nach Hause komme!«
Ich erwarte nicht mal, daß du da bist, fügte er in Gedanken hinzu.
Lucy drückte ihre Zigarette aus und stand auf. »Zeit für mich zu gehen«, verkündete sie.
»Willst du nicht zum Essen bleiben?« fragte Geraldine.
Lucy schüttelte den Kopf. »Bestimmt nicht!« Es war völlig klar, daß sie wegen Phillip ging, daß sie es für unter ihrer Würde befand, sich mit ihm über einen längeren Zeitraum im selben Raum aufzuhalten. Sie griff nach ihrem Mantel. Phillip machte keine Anstalten, ihr hineinzuhelfen, sondern sah ungerührt zu, wie sie sich in die zu engen Ärmel quälte.
»Denk mal über das nach, was wir besprochen haben«, sagte sie und hauchte Geraldine einen Kuß auf die Wange. Sie nickte Phillip kühl zu und verließ die Wohnung. Man hörte die altersschwache Treppe draußen in allen Tönen knarren, als sie hinunterlief.
»Tut mir leid, daß sie noch da war«, sagte Geraldine, »aber ich konnte sie ja nicht einfach hinauswerfen.«
»Klar.« Er ließ sich auf das Sofa fallen, daß ihm nachts, zur Liege ausgeklappt, als Bett diente. Bevor sich Geraldine wie eine Klette an ihn geheftet hatte, hatte er es tagsüber oftmals gar nicht wieder zusammengebaut, sondern mitsamt zerwühltem Laken und zerknäulter Decke einfach stehen gelassen. »Allerdings hast du ja auch noch, wenn ich mich recht erinnere, eine eigene Wohnung in London, in die du sie einladen könntest!«
Geraldine zuckte zusammen, begann mit etwas hektischen Bewegungen Aschenbecher und Kaffeetassen wegzuräumen. »Ich bin nicht mehr gern dort. In … meiner Wohnung, meine ich. Ich fühle mich dort sehr einsam.«
»Du könntest wieder mehr Termine wahrnehmen. Dann wärst du gar nicht so oft daheim, und wenn doch, würdest du die Stille sicher genießen.« Er sah sie scharf an. »Jede Wette, daß die gute Lucy genau darüber mit dir gesprochen hat? Daß du wieder stärkeres berufliches Engagement bringen sollst?«
»Lucy hat ihre eigene Sicht der Dinge. Die muß nicht immer mit meiner übereinstimmen.«
»Aber manchmal hat sie einfach recht, und du weißt, daß ich das über meine spezielle Freundin Lucy nicht gern sage. Du bist Fotomodell, du siehst toll aus, und du kannst deinen Job noch für ein paar Jahre mit vollem Einsatz ausüben. Statt dessen hängst du in meiner Wohnung herum«, er legte besondere Betonung auf das Wort meiner , »und vergeudest deine Zeit mit einkaufen, kochen und irgendwelchen überflüssigen Verschönerungsprojekten! « Er wies auf die Bilder und Blumen. »Kein Wunder, daß Lucy noch griesgrämiger dreinblickt als sonst! Ihr
geht dabei schließlich auch eine Menge Kohle durch die Lappen. «
»Ich bin nicht in erster Linie auf der Welt, um Lucy
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