Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
tragischen Tod seines Sohnes ging er mit keinem Wort ein, auch schien er keineswegs von Trauer umfangen zu sein. Jessica wußte, daß Alexanders Mutter seit vielen Jahren tot war, und es wunderte sie, daß es Will nicht zu berühren schien, mit Alexander den letzten lebenden Verwandten verloren zu haben. Wenn man von Ricarda, seiner Enkelin, absah, doch zu der hatte er, wie Alexander einmal erzählt hatte, nie Kontakt aufgenommen.
»Elena hat ihm nach Ricardas Geburt ein paar Fotos geschickt. Aber er hat nicht darauf reagiert.«
Von dem Enkelkind, das in Jessicas Bauch wuchs, wußte er ebenfalls nichts, und Jessica vermutete, daß es ihn auch nicht interessieren würde.
Sie sagte, sie werde um sechzehn Uhr bei ihm sein. Er meinte, sie brauche sich nicht festzulegen. »Ich bin allein. Es ist egal, wann Sie kommen. Erwarten Sie keinen Kaffee und keinen Kuchen! Ich neige nicht dazu, andere zu bedienen. Ich decke keinen Tisch oder stelle mich in die Küche, verstehen Sie?«
Sie hatte versichert, daß sie keinerlei Erwartung in diese Richtung hege, und sich dann verabschiedet. Merkwürdiger alter Kauz, aber weniger schroff, als sie befürchtet hatte. Im Grunde wußte sie nichts von ihm. Alexander hatte kaum über ihn gesprochen.
Mittags erschien Alicia und brachte den Schlüssel, nahm erleichtert ihr Geld in Empfang. Sie wollte wissen, ob Jessica es für möglich hielt, daß Evelin ein so schreckliches Verbrechen begangen hatte.
»Nein«, sagte Jessica, »ich kann es mir nicht vorstellen. Evelin war schwierig und hatte es schwer, aber mit Sicherheit ist sie außerstande, hinzugehen und vier Menschen die Kehlen durchzuschneiden und ein kleines Kind mit einem Messer in Brust und Bauch zu stechen. Aber manchmal denke ich, die ermittelnden Beamten dort drüben sind einfach froh, einen Schuldigen zu haben, weil sie das vor der Öffentlichkeit besser dastehen läßt. Die
lassen Evelin wohl erst dann gehen, wenn sie den wahren Täter haben.«
»Frau Burkhard tut mir so leid«, sagte Alicia, »muß sein so schrecklich - in fremdes Land in Gefängnis, ohne Hoffnung …«
»Ich denke, daß sie die Hoffnung noch nicht aufgegeben hat«, sagte Jessica. »Sie hat einen guten Anwalt, und es gibt Indizien gegen sie, aber keine Beweise. So einfach ist es zum Glück nicht, einen Menschen wegen angeblichen mehrfachen Mordes hinter Gitter zu bringen.«
Dann kam ihr ein Gedanke.
»Wissen Sie«, fragte sie vorsichtig, »etwas über die Ehe von Evelin und Tim … Herrn Burkhard? Ich habe gehört, es soll nicht zum besten gestanden haben?«
Alicia wand sich ein wenig. »Was soll ich sagen? Er ist … war … sehr aufbrausend …«
»Evelin war häufig verletzt«, sagte Jessica, »sie spielte angeblich Tennis und joggte, aber sie hatte dabei ziemlich viel Pech. Immerzu hinkte sie oder hatte irgendwo eine Zerrung oder Quetschung oder sonst etwas, das ihr Schmerzen verursachte.« Sie sah Alicia scharf an. »Das ist Ihnen doch sicher auch aufgefallen.«
»Sie war nicht … sportlicher Typ«, sagte Alicia, »vielleicht deshalb so viele Verletzungen …«
»Glauben Sie das?«
»Sie hat gesagt.«
»Ja. Mir hat sie das auch gesagt. Jedem hat sie das gesagt. Aber es gibt andere Gerüchte. Demnach soll ihr Mann nicht ganz unschuldig gewesen sein an ihren zahlreichen Blessuren.«
»Ich nicht weiß.«
Du weißt schon, dachte Jessica, das Personal weiß immer eine ganze Menge. Aber du willst um keinen Preis in irgend etwas verstrickt werden!
Sie verabschiedeten sich kühl voneinander.
Jessica schob sich eine Tiefkühlpizza in die Mikrowelle, fütterte Barney, setzte sich dann zum Essen auf die Terrasse.
Der Maitag war warm und trocken. Das Gras im Garten stand hoch.
Ich muß den Rasen mähen, dachte sie, Blumen pflanzen. Irgendwie sehen, daß es weitergeht.
Die Frage war, ob sie weiterhin in diesem Haus wohnen wollte. Sie hatte dieses Problem noch keineswegs gelöst, schreckte auch immer wieder davor zurück. Woher sollte sie wissen, was richtig war? Woher sollte sie wissen, wie sie in einem Jahr empfinden würde?
Ich muß jetzt nichts entscheiden, dachte sie, ich kann warten, bis das Baby da ist.
Sie aß die Pizza nur zur Hälfte auf, dann verspürte sie keinen Hunger mehr, nur Widerwillen. Der sonnige Samstagnachmittag dehnte sich lang und leer vor ihr. Niemand, mit dem sie einen Spaziergang machen konnte. Oder Kaffee trinken oder plaudern. Oder einfach nur zusammen in der Sonne sitzen. Mit Alexander hatte es keine leeren
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