Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
nicht? Ich habe Sie ein paarmal im Vorgarten Ihres Hauses gesehen. Sie leben allein?«
Jessica empfand ihn als zudringlich und unangenehm, zudem als gefühllos seiner Frau gegenüber. Ohne auf seine letzte Frage einzugehen, sagte sie: »Es war vernünftig, daß Ihre Frau mich angerufen hat. Der arme Hund hat sich sehr gequält. Leider konnte ich nichts anderes mehr tun, als ihn zu erlösen.«
Tim hatte gelächelt. »Er quälte sich seit einem Jahr. Ich habe immer wieder auf Einschläfern gedrängt. Aber meine Frau konnte sich nicht entschließen. Der Hund war ein Kindersatz für sie.«
Evelin zuckte zusammen und senkte den Kopf. Jessica fragte sich, warum dieser Mann mit jedem Satz, den er sagte, zu weit zu gehen schien.
»Den meisten Menschen fällt eine solche Entscheidung sehr schwer«, sagte sie unbehaglich.
»O ja, das stimmt, das stimmt. Vor allem, wenn ein Tier als Ersatz herhalten muß für eine befriedigende Familiensituation. Ich erlebe solche Fälle sehr häufig«, sagte Tim. »Ich bin Psychotherapeut, müssen Sie wissen. Wenn das normale Familiengefüge nicht stimmt, drehen viele Frauen einfach durch.«
Jessica hatte ihr Glas abgestellt. »Wir sollten alle sehen, daß wir noch ein bißchen Schlaf finden. Ich gehe jetzt besser nach Hause.«
»Meine Frau kann keine Kinder bekommen«, sagte Tim, »was sich zunehmend zu einem Trauma bei ihr auswächst. Daher ihre geradezu verrückte Liebe zu diesem Tier. Man muß nun sehen, wie es weitergeht.«
Evelin war völlig in sich zusammengesunken, hatte kein Wort mehr hervorgebracht, sich nicht einmal von Jessica verabschiedet. Tim hatte Jessica zur Tür begleitet und ihr noch einmal für ihre Mühe gedankt. Jessica entsann sich, auf der nächtlichen Straße gestanden und gedacht zu haben: Mein Gott, was für ein aufdringlicher Typ!
Aber am nächsten Tag hatte Evelin angerufen und sich völlig normal gegeben, und dann war es zu jenem Abendessen gekommen, bei dem Jessica Alexander kennengelernt hatte. Sie hatte sich verliebt, sie war glücklich gewesen, und sie hatte Tim überhaupt nicht mehr richtig zur Kenntnis genommen. Im nachhinein hatte sie die Nacht, in der sie Evelin kennenlernte, als verworren und kompliziert empfunden, aber Tims Verhalten hatte sich verwischt und schließlich relativiert. Heute wußte sie, daß sie, genau wie die anderen Freunde, mit dem Verdrängen begonnen hatte: Sie liebte Alexander und wollte ihm nicht als erstes erklären, daß sie einen seiner besten Freunde für einen Kotzbrocken hielt. Sie wollte nicht die sein, die Unfrieden stiftete. Sie wollte nicht unbequem sein. Sie hatte sich angepaßt.
Sie stieg die Treppe hinauf. Evelin hatte sie bereits einmal durch das Haus geführt, deshalb wußte sie, wie die Räume angeordnet waren. Das große Schlafzimmer, das Evelin ganz in Weiß eingerichtet hatte, das Bad, das jeden erdenklichen Komfort besaß. Evelins kleines, persönliches Zimmer. Und das große Zimmer zur Südseite hin, das Evelin während ihrer Schwangerschaft sechs Jahre zuvor für das Baby eingerichtet hatte. Nichts war darin verändert worden. Die Wiege stand noch in der Ecke, darüber hing das Mobile mit bunten Enten daran. Den Wickeltisch gab es noch, den kleinen Schrank, auf dessen Tür Abziehbilder von putzigen Kätzchen klebten, die Schmetterlinge jagten oder an kitschigen Rosen schnupperten. Überall Stofftiere. Vorhänge und Tapete trugen das gleiche Motiv tanzender Teddybären. Jessica öffnete die Schranktür. Windelpakete und säuberlich gefaltete Strampelanzüge, kleine Schuhe und Strümpfe, Strickmützchen. Milchfläschchen, Schnuller, Babyrasseln. Die Ankunft des neuen Erdenbürgers war damals voller Liebe und Hingabe vorbereitet worden. Aber der Raum war dann sechs Jahre lang unberührt geblieben.
Warum hatte sich Evelin das angetan? Dieses Zimmer zu sehen, es zu hegen und zu pflegen? Denn es war sauber, es roch
frisch, offenbar wurde hier regelmäßig Staub gewischt, wurden die Fenster geputzt, die Blumen auf der Fensterbank gegossen. War dies alles ein Zeichen der Hoffnung, die Evelin nie aufgegeben hatte? Oder kam die Unfähigkeit darin zum Ausdruck, Abschied zu nehmen, den Verlust zu realisieren - und damit auch zu verarbeiten?
Jessica hatte plötzlich das sichere Gefühl, daß hier, in diesem Zimmer, das Zentrum der Qual lag, in der Evelin lebte, und daß sie noch weit mehr und umfassender gelitten hatte, als es irgend jemand hatte erfassen können. Sie mußte um diese leere Wiege gekreist sein,
Weitere Kostenlose Bücher