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Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens

Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens

Titel: Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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gewesen, hatte fünf Minuten später, ihren Notfallkoffer in der Hand, vor Evelin gestanden. Evelin war im Nachthemd gewesen. Um die linke Hand hatte sie eine Bandage getragen.
    Ein unglücklicher Sturz beim Tennis, wie sie später erklärt hatte. Weshalb hätte man diese Aussage anzweifeln sollen?

    Eigentlich, dachte Jessica, habe ich sie nie unverletzt erlebt. Irgend etwas war immer mit ihr. Buchstäblich von der ersten Sekunde an.
    Hätte sie mißtrauisch werden müssen? Aber das Bild war ihr stimmig erschienen: die dicke Evelin, die aus unerfindlichen Gründen von dem Ehrgeiz besessen war, es ihrer sportlichen, schlanken, aktiven Freundin Patricia nachzutun und die dabei regelmäßig Schiffbruch erlitt. Die sich ständig an Übungen wagte, an denen sie wegen ihrer zahlreichen Pfunde scheitern mußte. Kein Wunder, daß sie andauernd unter irgendeiner Sehnenzerrung, Verstauchung oder Gelenkentzündung litt. Alle hatten sie darüber immer wieder geschmunzelt. Beim Frühstück in Stanbury war Evelin mit Sätzen wie »Na, Evelin, hast du einen doppelten Salto geübt?« begrüßt worden, oder: »Sieht die Reckstange wenigstens genauso lädiert aus wie du?« Evelin hatte gequält gelächelt, sich aber augenscheinlich mit ihrer Rolle als plumper Unglückswurm der Truppe abgefunden. Dick und Doof in einer Person, der Tolpatsch, der die anderen erheiterte.
    Schon an diesem Konzept, das erkannte Jessica nun, hätte man sich nicht beteiligen dürfen. Evelin hatte sich nicht gewehrt, aber das hieß nicht, daß die Demütigungen an ihr abgeprallt waren. Sie hatten ihre Depressionen gefüttert, angereichert, ausgebaut. Aber wenn in Wahrheit etwas ganz anderes hinter ihren Verletzungen gesteckt hatte und wenn die anderen das gewußt hatten, dann war alles noch schlimmer. Und es war vor allem so vollkommen unverständlich. Warum diese Verdrängung? Dieses gnadenlose Leugnen eines massiven Problems, das zwei von ihnen betroffen hatte. Evelin und Tim. Hatte einer der Freunde wenigstens mit Tim einmal gesprochen? Ihn gefragt, was los war?
    Erneut beschloß sie, mit Leon darüber zu reden, wenn es ihm besserginge. Vielleicht wußte er auch, ob Alexander etwas unternommen hatte.
    Sie strich durch die Küche, die, nur von einer Theke abgeteilt, ins Wohnzimmer integriert war. Eine Uhr tickte laut. Die Wandschränke
hatten gläserne Türen und gaben den Blick frei auf Evelins edles Porzellan. Und auf die Jugendstil-Sektgläser, die Jessica immer besonders bewundert hatte. In jener Nacht, in der Jessica den alten Schäferhund eingeschläfert hatte, hatte Evelin ihr hinterher ein Glas Sekt angeboten.
    »Wir sollten uns stärken«, hatte sie erklärt. Ihre Augen waren verweint gewesen, aber die Tränen mußte sie am Vortag vergossen haben. Während ihr Hund starb, war sie sehr gefaßt gewesen, hatte ihn im Arm gehalten und leise auf ihn eingeredet. Der Hund hatte um Atem gerungen, und Jessica hatte auf den ersten Blick erkannt, daß er nicht zu retten war. Fast fünfzehn Jahre alt, seit über einem Jahr, wie Evelin berichtete, in ständiger ärztlicher Behandlung wegen Herzschwäche und Wasser in der Lunge. So schlimm wie in den letzten Tagen war es noch nie gewesen, und in dieser Nacht war ein Höhepunkt erreicht, bei dem jede Lebensverlängerung eine Quälerei bedeutet hätte.
    »Sie sollten Abschied nehmen«, hatte Jessica gesagt, und Evelin hatte genickt, hatte sich nicht gewehrt, hatte offenbar vorher schon begriffen, daß es nun keine andere Möglichkeit mehr gab. Der Hund war friedlich eingeschlafen. Jessica erinnerte sich, daß sie ständig erwartet hatte, Evelins Mann werde dazustoßen, aber die beiden Frauen waren mit dem Tier allein geblieben. Erst später, es war gegen drei Uhr, als sie im Wohnzimmer saßen und einen Sekt tranken, war Tim plötzlich aufgetaucht. Er hatte einen dunkelblauen Bademantel getragen, der mit chinesischen Schriftzeichen bedruckt war, und seine Haare und sein Bart waren zu einem wilden Gestrüpp zerzaust. Er wirkte ein wenig wie ein Guru oder ein Friedensmissionar und schien nicht recht in die elegante Umgebung dieses Hauses zu passen. Auch nicht zu der dicken Frau in dem zweifellos teuren Chiffonnachthemd. Jessica hatte erwartet, daß er Evelin tröstend in den Arm nehmen und dann dem toten Hund über das Fell streichen würde, aber er ignorierte sowohl das Tier als auch seine Frau und wandte seine Aufmerksamkeit sofort der Fremden zu.

    »Ah, die junge Tierärztin! Sie wohnen am Ende der Straße,

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