Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
wieder und wieder, Stunden und Tage. Wie oft mochte sie vor dem Schrank gestanden und die kleinen Strampelanzüge neu geordnet haben? Wie oft hatte sie die Stofftiere gestreichelt und die weiche, blumenbedruckte Matte auf dem Wickeltisch berührt? Wie oft hatte sie geträumt von dem, was hätte sein können, und war dann in der erbarmungslosen Realität erwacht?
Und heute saß sie im Gefängnis unter Mordverdacht.
Es paßte einfach nicht. Ein Selbstmordversuch wäre für Evelin vielleicht nicht ungewöhnlich gewesen, aber vielfacher Mord - das war einfach nicht vorstellbar.
Sie ging hinüber in Evelins Zimmer. Ein Sofa, ein Fernseher, Regale mit Videos und CDs. Es sah so aus, als habe sie hier viel Zeit verbracht, sicher mehr Stunden als unten in dem stets etwas steril wirkenden Wohnzimmer. Hierher hatte sie sich abends zurückgezogen, sich auf das Sofa gekuschelt, ihre Lieblingsfilme angesehen. Sie war eine einsame Frau. Eine dicke, depressive, einsame Frau.
Jessica stöberte auf dem Schreibtisch herum. Ein paar Ansichtskarten lagen da, von irgendwelchen Bekannten, ein Buch über positives Denken, ein aus der Zeitung ausgeschnittenes Kochrezept, Fotos vom Weihnachtsurlaub auf Stanbury. Und eine Karte, weiß, etwas größer als eine Visitenkarte: Dr. Edmund Wilbert, Arzt - Psychotherapie stand darauf, daneben Adresse
und Telefonnummer. Darunter befand sich eine Tabelle der Wochentage, in der Patienten Datum und Uhrzeit ihrer jeweiligen Termine eintragen konnten. Evelin hatte den 28. April vermerkt, den Montag unmittelbar nach der geplanten Rückkehr vom Osterurlaub in Stanbury. Offenbar hatte sie es eilig gehabt, ihren Therapeuten nach den zwei Ferienwochen wiederzusehen.
Aber sie hat niemandem erzählt, daß sie in Psychotherapie ist, dachte Jessica.
Zumindest hatte sie es ihr nicht erzählt. Aber da niemand je etwas darüber hatte verlauten lassen, war es vielleicht wirklich ihr ganz eigenes Geheimnis gewesen. So offen, wie die Karte auf dem Schreibtisch gelegen hatte, schien sie ihre Behandlung jedoch vor ihrem Mann jedenfalls nicht verheimlicht zu haben. Ob das Tim gestört hatte? Er hatte sich immer für den Papst unter den Psychotherapeuten gehalten. Natürlich hatte Evelin nicht seine Patientin sein können, aber ein Typ wie er mochte es bereits als ehrenrührig empfunden haben, daß seine Frau überhaupt professionelle Hilfe für ihre Seele in Anspruch nehmen mußte. Womöglich hatte er sich auch Sorgen gemacht, was alles sie jenem Dr. Wilbert erzählte. Wenn er ihr gegenüber wirklich wiederholt gewalttätig gewesen war, konnte der Gedanke, daß ein Kollege haarklein davon erfuhr, nicht gerade angenehm für ihn gewesen sein.
Jessica schob die Karte in ihre Handtasche. Sie würde Dr. Wilbert anrufen und ihn um ein Gespräch bitten. Natürlich stand er unter Schweigepflicht, aber angesichts der besonderen Umstände konnte er ihr vielleicht trotzdem mit ein paar Informationen weiterhelfen. Außerdem wußte er womöglich gar nicht, daß seine Patientin im Gefängnis saß, und machte sich Sorgen um ihren Verbleib.
Immerhin, sie war einen kleinen Schritt weitergekommen. Es gab einen Menschen, an den sie sich wenden konnte, und zwar einen, der nicht in das ganze Drama verstrickt war. Sie ging wieder hinunter, ließ Barney, der schon ungeduldig an der Gartentür
kratzte, wieder ins Haus. Sie würde jetzt mit ihm aufs Land fahren und spazierengehen, und am nächsten Tag würde sie ihren Schwiegervater in Angriff nehmen.
Zu den Verrücktheiten, die ihr Leben seit der Heirat mit Alexander bestimmten, paßte es, daß sie ihn nun erst kennenlernen würde, nachdem sie Witwe geworden war.
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Ricardas Tagebuch
17. Mai. Heute bin ich zum erstenmal wieder aufgestanden. Es ist Mai, und draußen ist schönes Wetter. Die ganze Zeit habe ich im Bett gelegen, bin nur manchmal ins Bad gegangen. Mama hat mir das Essen gebracht. Sie hatte oft verweinte Augen. Ich weiß nicht, ob es daher kommt, weil sie sich Sorgen um mich macht oder weil Papa tot ist. Vielleicht beides. Sie hat ein paarmal gesagt: »Ich kann es nicht fassen. Ich kann es nicht fassen.« Und heute hat sie gesagt: »Ich glaube, ich fange jetzt erst ganz langsam an, es zu begreifen.«
Ich habe mich nicht ganz richtig angezogen. Leggings, Sportsocken, ein Sweatshirt. Ich bin wacklig auf den Beinen. Im Augenblick würde es mit dem Basketball nicht besonders gut gehen. Egal. Die Mannschaft kommt auch ohne mich klar. Ich habe mit all denen sowieso nichts mehr zu
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