Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
draußen gehört habe, eher sogar noch schneller. Irgendein Gericht in die Mikrowelle, dann wird das Frühstück abgeräumt, werden die Krümel vom Tisch gewischt, die Sets neu aufgelegt, Teller, Besteck, Gläser hergeschleppt, die Mikrowelle piept, sie zieht das Essen so hastig heraus, daß sie sich die Finger verbrennt und »Au!« schreit. Sie rennt in den Keller, um Mineralwasser zu holen, wenn keines mehr im Kühlschrank ist. Und die ganze Zeit sitze ich nur da und schaue zu.
Ich frage mich, warum es mir solchen Spaß macht, sie so zu erleben. Warum ich nicht nett sein und ihr das geben kann, was sie ersehnt. Es ist sehr schwer, sich über das klarzuwerden, was im eigenen Inneren passiert. Ich denke, es hat etwas mit Rache zu tun. Es ist Genuß, und Rache kann genußvoll sein. Ich mag Mama. Ich liebe Mama. Eigentlich dürfte es nicht sein, daß ich mich rächen will. Wofür?
Weil sie von Papa weggegangen ist.
Er hat sie nicht weggeschickt. Sie ist gegangen.
»Ich mußte einen Schlußstrich ziehen«, hat sie mal zu mir gesagt.
Warum? Warum? Warum?
Immer wenn ich daran denke, merke ich, daß ich ihr nicht entgegenkommen kann. Daß ich weiter zusehen will, wie sie sich abzappelt, wie sie sich Sorgen macht, wie sie mich wortlos anfleht. Ich erschrecke ein bißchen vor mir selbst, aber wirklich nur ein bißchen. Nach allem, was war, wieso sollte ich da noch richtig erschrecken?
Außerdem ist Mama bald die Sorgen los. Wenn ich nach England gehe. Ich überlege immer, ob ich Keith vorher anrufe, oder ob ich einfach da stehe. Seine Telefonnummer daheim habe ich nicht, denn früher hätte ich da ja nie anrufen dürfen wegen seines Vaters. Aber sein Vater kann ihm ja jetzt wohl keine Vorschriften mehr machen. Auf seinem Handy habe ich es zweimal versucht, es war aber nicht eingeschaltet. Über die Auskunft würde ich natürlich auch die Nummer der Farm herausbekommen, aber ich bin einfach ein bißchen zu ängstlich, um mich anzukündigen.
Warum habe ich Angst?
Ich habe so viel Zeit zum Grübeln jeden Tag, da stellen sich solche Fragen. Und eigentlich will ich sie gar nicht beantworten. Keith liebt mich. Ich liebe ihn. Es gibt nichts, wovor ich Angst haben müßte. Er wollte mit mir ein neues Leben anfangen, aber es ist klar, daß er auch an seine Mutter denken mußte. Wir hatten keinen richtigen Abschied, aber wie hätten wir das auch machen sollen?
Ich werde einfach da stehen. Im Juni.
8
Jessica hatte Dr. Wilbert am Montag früh angerufen, und er hatte ihr für den nächsten Tag einen Termin gegeben. Er war sofort äußerst hellhörig gewesen, als sie sagte, sie sei eine Freundin von Evelin Burkhard und bräuchte dringend ein Gespräch mit einem Menschen, der sie gut kenne.
»Evelin ist in großen Schwierigkeiten«, hatte sie gesagt, und Dr. Wilbert hatte erwidert: »Ich weiß. Sie hat mich angerufen von England aus.«
»Ich möchte ihr helfen. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, in ganz wichtigen Bereichen ihres Lebens völlig im dunkeln zu tappen.«
»Sie wissen, daß ich natürlich an meine Schweigepflicht gebunden bin«, sagte Dr. Wilbert.
»Ich weiß. Aber im Moment sind Sie der einzige Mensch, an den ich mich wenden kann.«
»Ich fliege heute zu einem Vortrag nach Hamburg und kehre erst spätabends zurück. Aber kommen Sie doch morgen früh zu mir. Gleich um neun Uhr?«
Ihm lag an seiner Patientin, das war klar. Er wollte Jessica schnellstmöglich sehen.
Dr. Wilbert hatte seine Praxis mitten in Schwabing, im ersten Stock eines Mietshauses. Jessica kurvte eine entnervende Viertelstunde lang durch die Straßen ringsum, ehe sie ihr Auto parken konnte - im Parkverbot, aber das war ihr inzwischen egal. Sie mußte ein ziemlich weites Stück laufen und kam abgehetzt und verspätet an. Dr. Wilbert schien damit gerechnet zu haben.
»Es gab keinen Parkplatz, ich weiß«, sagte er als erstes, dann reichte er ihr die Hand. »Wilbert.«
»Jessica Wahlberg.«
»Kommen Sie bitte herein.«
Es gab einen kleinen Warteraum, an dessen Wänden bunte Bilder
hingen und der einen recht heimeligen Eindruck machte. Ganz im Gegensatz zu dem Sprechzimmer, das höchst minimalistisch eingerichtet war mit einem Schreibtisch aus Glas und Chrom, zwei schwarzen Ledersesseln und einem einzigen Bild an der Wand, etwas sehr Abstraktes in leuchtend roter Farbe, das Jessica spontan als Phallus gedeutet hätte - was sie sich natürlich zu sagen hüten würde.
Wilbert bat sie, in dem schwarzen Sessel Platz zu nehmen, und setzte
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