Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
vorhatte, mit einem mehrfachen Mörder unter einem Dach zu leben und ihn womöglich sogar zum Vater ihrer Kinder zu machen.
Ich darf nicht an ihm zweifeln. Nicht eine Minute lang!
Aber sie zweifelte, sie hatte von der ersten Sekunde an gezweifelt. Keinen Moment lang war sie sicher gewesen, ob seine Geschichte vom kopflosen Aufbruch nach Leeds stimmte. Es hatte sie mißtrauisch gestimmt, wie eilig er es mit der lückenlosen Konstruktion eines Alibis gehabt hatte. Zugleich war es in seiner Situation verständlich gewesen. Wissend, daß er in der ersten Reihe der Verdächtigen rangieren würde, mußte ihm stark an einer entlastenden Aussage liegen. Immer wieder mußte sie sich vorbeten, daß es normal war, einen halben Tag lang scheinbar irrationale Dinge zu tun. Wie etwa in der Gegend herumfahren, ein obskures Ziel vor Augen, das man später wieder verwarf, nachdem einem jeder andere Mensch vorher hätte sagen können, daß man sich in einen blödsinnigen Gedanken verrannt hatte. Was hatte sie schon getan an jenem Tag? Im wesentlichen in ihrem Zimmer gesessen und geheult. Wäre sie aus irgendeinem Grund verdächtig erschienen, sie hätte auch niemanden gehabt, der ihre Unschuld bestätigte. Sie hätte sich ebenfalls um eine Konstruktion und einen bereitwilligen Mitspieler bemühen müssen.
Dies alles bedenkend, wieder und wieder, zweifelte sie dennoch. Und wahrscheinlich war es das, was Phillip hatte kuschen lassen in den letzten Wochen. Er war sensibel genug, ihren Zweifel zu spüren. Deshalb hielt er sie für gefährlich. Er wußte, wenn ihre Sorge, daß sie einen Killer deckte, zu groß wurde, würde sie alles zusammenbrechen lassen. Solange sie in seiner Nähe war, konnte er das Bild, das sie von ihm hatte, beeinflussen. Er war der
Phillip, der er immer gewesen war, der Freund, den sie jahrelang kannte. Der Mann, der ihr jede Menge Probleme bereitet hatte, nach dem sie aber auch verrückt war. Den sie liebte. Das machte sie lenkbar. Lenkbarer, als sie es gewesen wäre, wenn er ihr die Tür gewiesen hätte. Wenn sie depressiv und einsam in ihrer Wohnung gesessen und sich mit dem Gedanken zu trösten versucht hätte, daß der Mann, der sie zurückgestoßen hatte, sowieso ein Verbrecher war. Einer, der ins Gefängnis gehörte, für wenigstens ein Vierteljahrhundert. Den sie dann womöglich sogar lieber im Gefängnis gesehen hätte als in den Armen einer anderen Frau.
Sie konnte sich gut vorstellen, daß er so dachte. Und nur deswegen hatte sie seine Wohnung umräumen und Tag für Tag dort aufkreuzen dürfen. Nur deshalb würde er es unterlassen, ihr den Kopf abzureißen, wenn sie ihm von ihrem Treffen mit dem Makler erzählte. Nur deshalb durfte sie sich überhaupt in der vagen Hoffnung wiegen, daß er das Häuschen mit ihr zusammen besichtigen würde. Und zugleich schauderte es sie, weil sie wußte, daß dies alles keine Basis für eine Beziehung oder gar eine Ehe war. Ein brüchiges Gebilde, das eines Tages unter Donnergetöse zusammenkrachen würde. Sie hatte Phillip nicht für sich gewonnen. Sie hatte lediglich einen Aufschub der Trennung erreicht.
Sie blieb stehen, versuchte ihren beschleunigten Herzschlag zu beruhigen, indem sie tief atmete. Sie durfte nicht zuviel grübeln, nicht zu weit in die Zukunft denken. Es ging um den Augenblick, und der bot ihr manche Möglichkeiten, die es zu nutzen galt.
Rigoros verwies sie all die düsteren Gedanken in einen abgelegenen Winkel ihres Gehirns und begann sich vorzustellen, wie sie das Häuschen einrichten würde. Sie konnte einige ihrer Möbel verwenden, aber sie wollte gern auch mit Phillip zusammen ein paar neue Sachen kaufen. Neue Sachen für ein neues Leben.
Sie sah auf die Uhr. Sie mußte sich beeilen, wenn sie den nächsten Zug erwischen wollte. Sie würde eine Flasche Champagner kaufen und dann in Phillips Wohnung warten.
Die Zeit war reif für den nächsten Schritt.
7
Ricardas Tagebuch
20. Mai. Mama ist verzweifelt, weil ich nicht zur Schule gehe. Nachdem ich am Samstag ja das Bett verlassen hatte, war sie wohl überzeugt, es würde nun alles werden wie früher. Aber ich sehe nicht, welchen Sinn das noch haben sollte. Ich sitze meine Zeit ab, ohne daß es dort eine Zukunft für mich gibt. Wozu sollte das gut sein? Außerdem hat es in der Zeitung Berichte gegeben über die Sache in England, und alle würden mich anstarren. Das sage ich Mama immer als Grund, weshalb ich das Haus nicht verlasse und weshalb sie auch die paar Klassenkameraden, die anrufen,
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