Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
dann, daß ich gehe?« fragte sie mit einer Stimme, die gepreßt und für sie selbst fremd klang. »Da du mich ohnehin nicht begleitest, ist es ja überflüssig, daß ich hier sitze und warte, bis du fertig bist. Ich kann den Wagen haben?« Letztere Frage war rein rhetorisch, denn das Auto gehörte ihr. Phillip besaß keines; hätte sie ihn nicht begleitet, hätte er mit dem Zug nach Yorkshire fahren müssen. Und er hätte wesentlich bescheidener wohnen müssen, denn es war Geraldine, die die recht komfortable Unterkunft bezahlte.
Das Schlimme war, daß sie genau wußte: Es wäre ihm völlig gleichgültig gewesen.
6
Die Übelkeit verging so schnell, wie sie gekommen war. Auf einmal drehte sich das Zimmer nicht länger, und auch der Brechreiz war verflogen. Jessica blieb noch einen Moment ungläubig auf dem Badewannenrand sitzen, den sie aufgesucht hatte, um im
Bedarfsfall in der Nähe der Toilette zu sein, aber sie hatte sich nicht getäuscht: Die Attacke war vorüber.
Sie stand auf und ging ins Schlafzimmer hinüber, wo Alexander besorgt auf und ab ging.
»Besser?« fragte er, als er sie sah.
Sie nickte.
»Ich dachte immer, übel sei einem immer nur morgens«, sagte sie, »aber mich überfällt es wahllos zu jeder Tageszeit.«
»Deshalb verstehe ich ja auch nicht, weshalb wir ein solches Geheimnis um deine Schwangerschaft machen«, entgegnete Alexander. »Über kurz oder lang wird es sowieso auffallen, daß du dich mehrmals am Tag übergibst. Abgesehen davon, nimmst du dann auch zu.«
»Das dauert. Ich bin erst in der elften Woche.«
»Trotzdem. Warum hast du mich gestern abend daran gehindert, die freudige Nachricht zu verkünden?«
»Zum einen finde ich es gegenüber Evelin nicht schön. Seit sie damals ihr Kind verloren hat ...«
»Das ist Jahre her! Das hat sie längst verwunden!«
Jessica stellte wieder einmal verwundert fest, daß selbst ein Mann wie Alexander, den sie als überdurchschnittlich sensibel und intelligent einschätzte, von einer unglaublichen Ahnungslosigkeit sein konnte, wenn es um die Psyche einer Frau ging, die er seit Jahren kannte und mit der er engsten Kontakt pflegte.
»Evelin hat es nicht im geringsten verwunden. Das würde ihr vielleicht nur gelingen, wenn sie endlich wieder schwanger würde, aber ob man damit noch rechnen kann nach so vielen Jahren ... Ihre Kinderlosigkeit ist ein sehr schweres Problem für sie.«
Alexander wirkte ehrlich überrascht. »Das hätte ich nicht vermutet. Sie ist recht introvertiert, aber doch insgesamt ganz … ganz ausgeglichen!«
»Evelin ist kein ausgeglichener Mensch. Ganz und gar nicht. Möglicherweise kommen da noch mehr Gründe zusammen, das
weiß ich nicht. Auf jeden Fall finde ich ein offizielles Verkünden meiner Schwangerschaft taktlos.«
»Du wirst es aber nicht geheimhalten können.«
»Nein. Aber vielleicht spreche ich erst einmal unter vier Augen mit ihr.«
»Oder sprich mit Tim. Er ist Psychologe. Vielleicht kann er ihr die Nachricht schonend übermitteln.«
»Ja, vielleicht. Aber sowieso«, Jessica setzte sich auf das Bett und zog ihre Turnschuhe an, »sowieso finde ich, daß Ricarda es wissen sollte, bevor die anderen es erfahren.«
»Aber du hast doch gesagt, daß Ricarda vermutlich sehr ablehnend reagieren wird.«
»Dennoch sollte sie es wissen. Sie ist Teil der Familie. Die anderen sind Freunde.« Sie stand auf und griff nach ihrer Regenjacke. »Ich mache einen Spaziergang. Zum Abendessen bin ich zurück.«
»Lauf nicht zu weit. Und streng dich nicht zu sehr an.«
»Ich paß schon auf.« Sie küßten einander zum Abschied, auf die zärtliche und sehr sanfte Art, wie sie stets miteinander umgingen. Es gab Momente, und dieser gehörte dazu, in denen sie einander ungeheuer nah waren. Es drängte Jessica, ihn noch einmal zu fragen, was es mit seinen Alpträumen auf sich hatte, aber sie ahnte, daß er ihr nicht antworten würde und daß die Magie des Moments zerstört wäre.
Im Treppenhaus begegnete sie Patricia, Evelin und Patricias Töchtern. Die Mädchen trugen ihre Reitkleidung, und man war offensichtlich im Aufbruch zu dem Ponyhof am Rande Stanburys. Evelin hatte ihre mollige Figur in etwas zu enge Hosen gezwängt; dazu trug sie einen wollenen Rollkragenpullover, in dem sie bei dem warmen Wetter entsetzlich schwitzen würde. Immerhin hing er weit über ihre Hüften, und Jessica vermutete, daß sie deswegen auf ihm beharrte, obwohl Patricia ihr gerade vor Augen hielt, daß er völlig ungeeignet war.
»Viel zu
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