Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
gewesen.
»Du kannst dir das nicht leisten!« hatte sie gesagt und mit der flachen Hand auf ihren Schreibtisch geschlagen. »Du bist kein Star, das muß ich dir offenbar einmal ganz unmißverständlich klarmachen! Du bist ein ziemlich gut bezahltes Fotomodell, aber das ist auch alles. Und du bist fünfundzwanzig! Weißt du, wie viele Siebzehn-, Achtzehnjährige bereits nachdrängen? Den Höhepunkt deiner Karriere hast du überschritten, meine Liebe. Du solltest jetzt mitnehmen, was nur geht, damit du in zwei oder drei Jahren, wenn der Ofen für dich aus ist, wenigstens über ein gut
gefülltes Bankkonto verfügst. Aber das ist bei dir ohnehin fraglich, da du diesen Herrn ja mehr oder weniger aushältst!«
So hatte Lucy noch nie mit ihr geredet, aber es war nicht so, daß sie Geraldine etwas Neues eröffnet hätte. Geraldine wußte selbst genau, wie die Dinge standen; sie hatte sich nie etwas vorgemacht.
»Ich kann nicht anders, Lucy«, hatte sie leise gesagt, »ich brauche seine Nähe. Ich brauche ihn . Er ist wirklich wichtig für mich.«
»Aber seit du ihn kennst, enttäuscht er dich nur!«
»Irgendwann …«
»... wird er sich ändern? Geraldine, das glaubst du doch selber nicht! Er ist Anfang vierzig! Er ist kein blutjunger Kerl, von dem man sagen könnte, er tobt sich ein bißchen aus und wird am Ende vernünftig. Der hat einen Schatten, meine Liebe. Und der bleibt ihm!«
Natürlich war sie trotzdem mit nach Yorkshire gefahren. Natürlich wußte sie, daß das falsch war. Natürlich war ihr klar, daß Phillip allem entgegenstand, was sie für ihre Zukunft erhoffte und was sie gespiegelt fand an dem Ecktisch mit den vier schreienden Kindern.
Ich sollte aufstehen, dachte sie, hinaufgehen, meine Sachen packen und nach London zurückfahren. Mein eigenes Leben leben und diesen Mann vergessen.
Die Tür zum Schankraum ging auf, und Phillip kam herein.
Seine dunklen Haare waren zerzaust vom Wind, und er brachte einen Geruch von Sonne und Erde mit sich, der viel besser zu ihm paßte als der von Zigarettenrauch, der ihm üblicherweise anhaftete. Er trug Jeans und einen dunkelblauen Rollkragenpullover, und Geraldine kam sich in ihrem schicken Wildlederanzug plötzlich völlig deplaziert vor.
Er sah sich um, entdeckte sie, kam an ihren Tisch. »Ich bin zu spät. Tut mir leid.« Er setzte sich, deutete auf ihr Glas mit Mineralwasser. »Ist das mal wieder dein ganzes Mittagessen?«
»Das ist Mittagessen und Frühstück in einem.«
»Dann paß nur auf, daß du nicht zunimmst!« Er schaute zu dem Buffet hinüber. »Würde es dich stören, wenn ich ein paar Bissen esse?«
»Ich hatte gehofft, wir gehen heute abend essen.«
»Dem steht nichts im Wege. Ich würde mich nur gern zwischendurch ein wenig stärken.« Er stand auf und verschwand in Richtung Buffet. Sie sah ihm nach und fragte sich, woran es lag.
An irgend etwas mußte es liegen. Es konnte nicht allein sein gutes Aussehen sein, denn gutaussehende Männer lernte sie ständig kennen. Die berühmten inneren Werte mochten in ihm vorhanden sein, jedoch profitierte sie selbst sicher am wenigsten davon. Er war meist nett zu ihr, aber auf eine seltsam gleichgültige Art, unverbindlich, ohne Anteilnahme. Sie wußte, daß er Schweres durchgemacht hatte, und sie hatte sich immer wieder gesagt, daß dies der Grund sei für seine Scheu vor einer engeren Bindung, für seine Unfähigkeit, eine echte Nähe zu ihr herzustellen, aber natürlich quälten sie ständig Zweifel. Vielleicht war es einfach so, daß er zwar ihre große Liebe war, sie jedoch nicht seine . Daß er die Zeit mit ihr angenehm fand, weil sie attraktiv war und intelligent und bereit, eine Menge für ihn zu tun. Aber er liebte sie nicht.
Am Ende liebte er sie ganz einfach nicht.
»Vielleicht liebst du ihn auch nicht«, hatte Lucy einmal zu ihr gesagt, »vielleicht bist du nur sexuell abhängig von ihm.«
Sie hatte heftig widersprochen, hatte diese Unterstellung weit von sich gewiesen. »Quatsch. Ich doch nicht. Du kennst mich doch. Kannst du dir vorstellen, daß ich in irgend jemandes Bett ausflippe?«
»Ausflippen mußt du nicht. Du kannst trotzdem abhängig sein.«
Und im tiefsten Inneren wußte Geraldine, daß es stimmte. Es war ein Wissen, das sie nie Macht über sich gewinnen lassen wollte und das sie zurückdrängte, wann immer es sich in ihr
meldete. Ihre Beziehung zu Phillip definierte sich vor allem über ihre Sexualität. Sie war süchtig danach, mit ihm ins Bett zu gehen. Süchtig sogar
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