Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
aufrichtig erleichtert und erfreut, »darauf stoße ich gern an.« Sie prosteten einander zu. Sie war erstaunt, wie sehr Leon unter Strom zu stehen schien und wie verjüngt er wirkte.
»Die neue Arbeit gibt dir ungeheuren Auftrieb«, stellte sie fest.
»Die neue Arbeit und die neue Wohnung. Es ging mir beschissen die letzten Wochen, aber das hast du ja selbst bemerkt. Es ist mir unendlich schwergefallen, das Haus aufzulösen. Ich bin durch die Hölle gegangen. Ich …« Er schüttelte den Kopf, strich sich mit der Hand über das Gesicht in einer Geste, die schauderndes Erinnern an die Müdigkeit und Depression jener Tage ausdrückte. »Ich habe jeden Tag mit Alkohol begonnen und mit Alkohol beendet. Anders hätte ich diese Zeit nicht durchgehalten.«
»Das ist doch ganz normal. Du …«
»Aber mir geht es besser«, sagte er lebhaft. »Als ich endlich durch war, ging es mir besser! Ich fühle mich, als wäre ich wieder da, wo ich mit Mitte zwanzig war, bevor ich aufhörte, selbst über mein Leben bestimmen zu können. Ich bekomme noch einmal eine Chance.«
Sie nahm einen Schluck von ihrem Champagner. Irgendwo tief in ihr erwachte ein Frösteln, aber sie wollte es nicht wahrnehmen, wollte nicht, daß es sich ausbreitete.
»Du siehst viel besser aus als noch vor ein paar Tagen«, meinte sie.
»Wie gesagt«, fing er an, und sie unterbrach ihn: »Ja. Ich weiß. Es geht dir auch besser.«
Sie schwiegen ein paar Minuten.
Unvermittelt sagte Leon: »Meine Herzschmerzen sind weg.«
»Du hattest oft Herzschmerzen?«
»Immer häufiger und immer stärker in den letzten Jahren, ja. Es begann mich wirklich zu belasten. Ich rechnete mir schon aus, daß ich irgendwann an einem Infarkt sterben würde, und das war alles andere als eine erfreuliche Vorstellung. Dabei habe ich nie ungesund gelebt, ich habe kein Übergewicht, ich rauche nicht, und wenn nicht gerade meine ganze Familie ermordet wird, trinke ich auch kaum jemals einen Schluck zuviel. Aber der Streß …« Er atmete tief durch. »Der Streß, der mit dem Tag begann, an dem ich Patricia heiratete. Diese unglückliche Ehe, dieser nicht enden wollende Druck … Es ist, als wäre ein Gewicht von mir genommen. Als könne mein Herz wieder frei schlagen.«
Jessica legte ihm die Hand auf den Arm. »Ich verstehe dich«, sagte sie, obwohl sich das Frösteln in ihr verstärkte, »ich verstehe dich, aber du solltest … du solltest nicht zu anderen so sprechen. «
»Weshalb nicht?«
»Weil es … weil es eigenartig klingt. Deine Frau und deine beiden Töchter sind bestialisch ermordet worden, und du scheinst … ja, irgendwie erleichtert. Befreit. Ich kann durchaus nachvollziehen, was da in dir vorgeht, aber …« Sie sprach den Satz nicht zu Ende. Sie fragte sich, ob sie es wirklich nachvollziehen konnte.
»Ich spreche sowieso mit niemandem über diese Dinge«, sagte Leon. »Meine beiden besten Freunde sind tot. Es gibt sonst niemanden, den ich so dicht an mich heranlassen würde.«
»Entschuldige meine Einmischung«, sagte Jessica.
Er stand auf. »Wie wäre es, wenn du hier in Ruhe deinen Champagner trinkst und ein wenig in den Abend hinaus träumst? Ich kümmere mich so lange um das Essen!«
»Du sollst doch nicht kochen für mich.«
»Es ist alles vorbereitet. Da mußt du jetzt durch.« Er lachte. Ehe er den Balkon verließ, legte er ihr einen Moment lang die Hand auf die Schulter.
Sie hatte nicht gewußt, daß Leon kochen konnte. Patricias Schilderungen hatte man immer nur entnehmen können, daß sie für das leibliche Wohl der Familie gesorgt hatte, auf die für sie typische, disziplinierte Weise: fettarm, vitaminreich, gesund. Von Leon war nie eine Klage gekommen, aber auch nie eine Andeutung, daß er selbst das Talent hatte, einmal etwas Besonderes für sie alle zuzubereiten. Nun zauberte er eine Köstlichkeit nach der anderen auf den Tisch, mit, wie es schien, leichter Hand und ganz nebenbei, und Jessica, die in ihrem Arbeitseifer das Mittagessen ausgelassen hatte, merkte, wie hungrig sie war. Sie aß und aß, bis sie meinte zu platzen, und sich nach dem Dessert mit einem Seufzer in ihrem Stuhl zurücklehnte.
»O Gott, Leon, das war unglaublich«, sagte sie. »Aber wenn ich jetzt noch einen Bissen zu mir nehme, kann ich mich für drei Tage nicht mehr rühren. Warum hast du nie erzählt, daß du ein begnadeter Koch bist?«
»Es gibt noch Käse. Du darfst noch nicht aufhören!«
»Vorsicht!« Sie lachte. »Nachher wirst du mich nicht mehr los, weil ich
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