Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
es nicht mehr schaffe, mich hochzuhieven.«
Er lächelte. Er hatte ein Windlicht auf die Balkonbrüstung gestellt, das sein Gesicht nur undeutlich erhellte, aber Jessica konnte das Blitzen in seinen Augen sehen.
»Warum sollte ich dich loswerden wollen?« fragte er.
Sein Tonfall verunsicherte sie, aber sie versuchte, möglichst unbefangen zu antworten. »Weil deine Wohnung viel zu klein ist für einen Übernachtungsgast.« Sie sah, daß er den Mund öffnete, und fügte schnell hinzu: »Barney ist allein daheim und muß irgendwann noch mal raus. Ich sollte jetzt bald gehen.«
»Hast du ihn deshalb zu Hause gelassen?« fragte Leon. »Ich habe mich schon gewundert.« Er wollte ihr Wein nachschenken, aber sie wehrte ab.
»Was meinst du mit deshalb ?«
»Um auf gar keinen Fall in Versuchung zu kommen, hierzubleiben. «
»In die Versuchung wäre ich sowieso nicht gekommen.«
»Nein?«
»Nein.« Sie griff nach ihrer Handtasche. »Ich sollte …«
»Weißt du nicht, daß es unhöflich ist, direkt nach dem Essen zu gehen?«
»Leon, ich …« Sie wollte weg. Auf einmal hatte sie das Gefühl, Teil einer mit Bedacht geplanten Inszenierung zu sein. Die Einladung, der warme Maiabend, das flackernde Windlicht, der Champagner, das Essen. Der gutaussehende Mann, der plötzlich nichts mehr mit dem Leon gemein hatte, der früher einfach nur ein guter Freund, ein netter Kerl gewesen war. Und der jetzt ein neues Leben wollte, viel zu schnell, viel zu radikal, aber vielleicht mit einer gewissen Berechtigung, weil jedes Verweilen im alten Leben, und sei es nur eine Sekunde zu lang, das mühsam errichtete Gerüst, mit dessen Hilfe er das Dasein ertrug, zum Einstürzen bringen konnte.
»Jessica«, sagte Leon, »laß mich ganz offen sein: Ich habe über uns nachgedacht. Uns beide verbindet das gleiche Schicksal. Wir haben die Menschen, die uns am nächsten standen, durch ein schreckliches Verbrechen verloren, und aus den Trümmern, die geblieben sind, müssen wir unser Leben neu errichten. Wir sind zu jung, um dauerhaft allein zu bleiben, aber wir können nie einen Partner finden, der wirklich versteht, was wir durchlebt haben. Uns ist etwas zugestoßen, das nicht zu den Dingen gehört, die Menschen üblicherweise zustoßen. Neulich habe ich ja schon versucht, dir das zu erklären, erinnerst du dich? Ich meine, es gibt Geldsorgen und Probleme mit den Kindern und Schwierigkeiten in der Partnerschaft, aber wen - außer mir und Evelin natürlich - kennst du schon, der Teil eines solchen Verbrechens war oder ist? In gewisser Weise hat jener Tag in Stanbury uns aus der Mitte der Gesellschaft hinauskatapultiert. Wir sind nicht mehr die, die wir waren, aber wir sind auch nicht mehr da, wo die anderen sind.«
Sie wußte, daß er auf gewisse Weise recht hatte, gleichzeitig meinte sie zu fühlen, daß sie nicht zulassen durfte, was er da in
großen schwarzen Lettern vor sie hinmalte. Dr. Wilbert hatte sie als ein Verbrechensopfer bezeichnet, aber letztlich akzeptierte sie den Status als Opfer erst dann, wenn sie die Ausgrenzung aus der Gesellschaft anerkannte, die Leon für sich selbst offenbar als zwangsläufig und unabwendbar hinnahm. Und das würde sie nicht tun. Niemals. Nicht nur wegen des Kindes, das sie erwartete. Sondern auch, um ihr eigenes Überleben zu sichern.
Sie stand auf. Auch Leon erhob sich. Er stand so, daß sie ihn hätte zur Seite schieben müssen, wenn sie den Balkon verlassen wollte. Sie hielt sich an ihrer Handtasche fest wie ein unsicheres Schulmädchen, das nicht weiß, wohin es mit seinen Händen soll.
»Ich glaube, daß jeder von uns beiden eine andere Art hat, mit dem Geschehenen fertig zu werden«, sagte sie, »und das ist keine Frage von falsch oder richtig. Es hat nur damit zu tun, daß wir verschiedene Menschen sind. Versuche nicht, mir deine Art überzustülpen, Leon. Ich muß meine eigene finden.«
»Ich wollte dir nichts überstülpen«, sagte Leon hastig, »ich wollte nur … ich dachte, es sind Fakten, die ich aufliste, und daraus ergeben sich Perspektiven für uns, die … nun, ich rede ziemlichen Blödsinn, was?« Er schüttelte den Kopf, als wolle er sich aus dem Geflecht verwirrender Gedanken befreien. »Ich wollte einfach sagen, daß ich dich sehr mag, Jessica. Daß ich mir vorstellen könnte, daß wir den Neuanfang, der ja für uns beide notwendig ist … daß wir den zusammen probieren?« Er formulierte den letzten Satz mehr als Frage denn als Feststellung. Er sah sie abwartend an, und fast
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